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Pflanzentransfer von Padua nach Wolfenbüttel || HAB
19. März 2025
Die Geschichte beginnt mit einer Reise, die der aus Hamburg stammende Joachim Gagelmann (um 1540-1595) im Jahr 1571 nach Frankreich und Italien unternahm. Eines seiner Ziele war die Universität in Padua. Mit seinen anatomischen Sektionen und einem Botanischen Garten gehörte der medizinische Lehrstuhl dort zu den innovativsten und am meisten frequentierten dieser Zeit. Autopsie ist hier der Schlüsselbegriff: Für die medizinische Praxis ist die eigene Anschauung kaum zu überschätzen ‒ das Sezieren am menschlichen Körper genauso wie das Besehen, Betasten oder auch Riechen an realen Pflanzen offenbaren viel mehr von der Natur als jedes Bücherstudium. Pflanzliches Material stellte damals die Hauptgrundlage von Arzneimitteln dar. Schon die Unkenntnis geringfügiger Unterschiede von Pflanzenarten konnte zu schweren, ja Tod bringenden Fehlern bei der Herstellung und Verabreichung von Medikamenten führen. Ein Teil des medizinischen Unterrichts fand daher unmittelbar an den Beeten im Botanischen Garten statt, ein Anschauungsunterricht, den nur wenige Universitäten in dieser Zeit bieten konnten.

Diese empirisch gestützte Lehr- und Vermittlungspraktik im Garten gab der Ausbildung eines neuen Mediums einen wichtigen Impuls. Um über den Moment und die Jahreszeiten hinaus ein lebensechtes Anschauungsobjekt verfügbar zu halten, verteilte man im Garten Pflanzenexemplare oder Teile davon an die Studierenden. Damit etablierte sich ‒ anknüpfend an die schon länger bekannte Praxis der Pflanzenkonservierung durch Trocknen und Pressen ‒ allmählich die pragmatische Form der Aufbewahrung dieser haltbaren Pflanzenobjekte in Büchern. Gagelmann legte solch eine Sammlung von etwa 200 verschiedenen Arten an. Er bezeichnete sie als ein Buch lebendiger Kräuter („Lebendiger Kreutter Buech“); der schon zeitgenössisch verbreitete Fachterminus lautete Herbarium oder sehr sprechend auch Hortus siccus (Getrockneter Garten).
Auch wenn er den Band nur wenig repräsentativ in einen einfach gehefteten Pergamentumschlag kleiden konnte, scheute Gagelmann sich nicht, ihn nach seinem Studienende und der Rückkehr im Jahr 1575 Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg als Geschenk zu überreichen. Gedacht war diese Gabe als Erfolgsbeleg und Gegenleistung für die Finanzierung seiner Ausbildung in Padua, die Julius über Jahre übernommen hatte. Ein nach neuesten Standards geschulter Arzt am Wolfenbütteler Hof war offensichtlich gewünscht. Gagelmann ergriff diese Chance und diente den Wolfenbütteler Herzögen als Leibarzt bis zu seinem Tod im Mai 1595.
Wie sich rekonstruieren lässt, befand sich das Herbarium nicht nur in der Bibliothek im Wolfenbütteler Schloss, sondern rund 200 Jahre lang auch in der Universitätsbibliothek in Helmstedt. Zurzeit ist es Gegenstand eines privaten Forschungsprojekts.
Gagelmanns Sammlung hatte den Charakter eines Gebrauchsherbariums. Nicht nur der schmucklose Einband, auch die aufgeschlagenen Seiten geben das zu erkennen. Im Vordergrund stand das Archivieren des Pflanzenmaterials, nicht die akkurate oder sogar kunstvoll arrangierte Präsentation der Objekte wie in einer Schausammlung. Dem hohen Alter geschuldet sind überdies häufig nur noch Fragmente der Pflanzenexemplare oder sogar nur deren Abdrucke auf dem Papier vorhanden.
Allein eine botanische Bestimmung der Pflanzenarten, die in diesem Buch die Jahrhunderte überdauert haben, ist deshalb nicht mehr möglich. Aber andere Quellen helfen dabei. Von großer Bedeutung sind die handschriftlich notierten Pflanzennamen – auch wenn das angesichts der verwirrenden Nomenklatur verwundern mag: Was verbirgt sich etwa hinter Iva, Serpillum oder gar Flamma ♃? Erst Mitte des 18. Jahrhunderts setzten sich allmählich universal standardisierte botanische Artnamen durch. In Gagelmanns Zeit kursierte dieselbe Pflanze unter vielen verschiedenen Namen, in Norditalien unter einem anderen als im Breisgau oder im Norden Deutschlands, eine bis auf die regionale und lokale Ebene differierende Bezeichnungsvielfalt. Umgekehrt konnte ein Name auch für verschiedene Arten gebräuchlich sein.
Es gilt daher, die erkennbaren botanischen Spuren mit den Benennungen in einen möglichst klaren Bestimmungs-Zusammenhang zu bringen. Und nun kommen doch gedruckte Pflanzenbücher ins Spiel. Schon seit dem 15. Jahrhundert gelangten solche Kräuterbücher in ganz Europa auf den Markt. Sie führen viele der regional und in medizinischen Kreisen gebräuchlichen Pflanzennamen auf und zeigen zunehmend um Detail- und Naturtreue bemühte Illustrationen der verschiedenen Arten. Bereits in der Bibliothek von Herzog Julius standen Gagelmanns Pflanzenband und solche Werke zusammen im Regal.
Die letzte Hürde bei der oftmals detektivischen Bestimmungsarbeit lässt sich nehmen, indem historische Gartenpläne aus Padua, die sich glücklicherweise auch aus der Zeit Gagelmanns erhalten haben, zu Rate gezogen werden. Sein Herbarium ist damit zugleich eine wertvolle Quelle für die historische Forschung zum Paduaner Garten. Die Kombination dieser Quellen führt somit auch auf die Spur des botanischen Unterrichts dort. Vielleicht lässt sich in Zukunft überdies etwas dazu ermitteln, ob Gagelmanns Buch Verwendung an der Helmstedter Universität fand. Seit 1692 gab es dort einen Hortus medicus.
Iva war übrigens der in Padua gebräuchliche Name für den deutschen Gelben Günsel (Ajuga chamaepitys L. Schreber), Flamma ♃ ist zu lesen als Flamma Jovis und kann als eine Clematis-Art identifiziert werden. Exemplare beider Arten wurden im 16. Jahrhundert im Spaldo Quarto des geometrisch angelegten Gartens in Padua gezogen. In Gagelmanns Herbarium sind sie uns erhalten geblieben als Zeugen einer historischen Flora und eines frühneuzeitlichen Wissenstransfers.
Die Forschung an Herbarien ist ein weitreichendes Feld mit interdisziplinären Perspektiven und gerät daher an der HAB immer weiter in den Fokus. Neben dem Gagelmannschen Herbarium wird seit letztem Jahr in einem größeren Projekt der Bibliothek das Herbarium Ruperti erforscht.
Titelbild: Blatt 41 mit sieben getrockneten Pflanzenobjekten aus dem Herbarium von Joachim Gagelmann, Lebendiger Kreutter Buech, Padua um 1575, HAB: 929 Helmst.,
http://diglib.hab.de/varia/objekte/929-helmst/start.htm
PURL: http://diglib.hab.de/?link=203
Die Autorin
Petra Feuerstein-Herz war bis Ende 2021 Leiterin der Abteilung Alte Drucke an der Herzog August Bibliothek. Zurzeit schreibt sie an einem Buch über den Pflanzenbestand und die Geschichte des Gagelmannschen Herbariums.