Käfig || HAB

07. September 2023

 

Im Jahr 2005 wurde die afghanische Dichterin und Journalistin Nadia Anjuman – mit nicht einmal 25 Jahren – von ihrem Ehemann erschlagen. Im selben Jahr hatte sie ihren ersten Lyrikband publiziert, der in Afghanistan und im Iran sehr populär wurde. Ihr klassischer Stil und ihr „Nähzirkel von Herat“, in dem Frauen unter dem Deckmantel der Handarbeit studierten, begründeten ihren Ruhm.

Die Buch- und Textilkünstlerin Carola Willbrand (geb. 1952) erinnert in ihrem Künstlerbuch „Käfig“ an Anjuman und setzt gleichzeitig ein Zeichen für weibliche Autorschaft. Das Künstlerbuch besteht aus drei Elementen (Abb. 1): einer Stola und zwei Büchern.

Abb. 1: Carola Willbrand: Käfig, 2020. //www.hab.de/wp-content/uploads/2023/09/hab-hablog-kaefig-abb-1.jpg
Abb. 1: Carola Willbrand: Käfig, 2020.

Die Stola besteht aus schwarzem Stoff mit aufgenähter weißer Spitze mit floralem Muster, in die an den Enden zwei große Taschen eingenäht sind. Auf der Innenseite der Stola stehen in weißer Handschrift Namen und Lebensdaten von 28 während der Zeit des Nationalsozialismus verbotenen Autorinnen. In den Taschen sind zwei Bücher verborgen. Die beiden Bücher, die die Stola umschließt, tragen die Titel „Erinnerungen hellblau“ und „Erinnerungen grau“. Die Bücher bestehen aus Papieren, die die Künstlerin aus eigener getragener Kleidung handgeschöpft hat. Sie sind gefärbt, mit Monotypien bedruckt und mit Fadenheftung versehen.

Bei dem querformatigen „Erinnerungen grau“ (Abb. 2, 3) hat man den Eindruck, durch ein Familienalbum zu blättern: Es sind Fotografien, die die Betrachter*innen in die gemütliche Wohnstube vergangener Zeit versetzen.

Abb. 2: Carola Willbrand: Käfig. Erinnerungen grau. //www.hab.de/wp-content/uploads/2023/09/hab-hablog-kaefig-abb-2.jpg
Abb. 2: Carola Willbrand: Käfig. Erinnerungen grau.
Abb. 3: Carola Willbrand: Käfig. Erinnerungen grau. //www.hab.de/wp-content/uploads/2023/09/hab-hablog-kaefig-abb-3.jpg
Abb. 3: Carola Willbrand: Käfig. Erinnerungen grau.

Umgeben von geblümten Tapeten, weißen Gardinen und plüschigen Sofakissen sitzen allein oder in der Gruppe Personen, die nicht genau erkennbar sind. Begleitet werden die Fotografien von einem Text der Künstlerin. Sie schildert eine Situation, wie es diese in vielen Familien geben könnte – Menschen sitzen zusammen, sie essen und trinken gemeinsam und immer wieder kommt eine Geschichte auf, die sie alle miteinander verbindet. In diesem Fall ist es die Geschichte von einem Mann im schwarzen Mantel, der regelmäßig an einer belebten Straßenecke anzutreffen war: „Er öffnete den Mantel. Weit hielt er die Innenseiten nach Außen. Der Mantel hatte viele Innentaschen. In den Innentaschen waren Bücher. Die Bücher, die verboten waren.“ Die Künstlerin ergänzt: „Ich stelle mir vor, alle Bücher in den vielen Innentaschen waren die Bücher der verbotenen Autorinnen, Dichterinnen, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen.“

Das zweite Buch „Erinnerungen hellblau“ (Abb. 4,5,6,7) ist Nadia Anjuman gewidmet. Auf der ersten Seite des hochformatigen Buches aus hellblauem Papier ist die deutsche Übersetzung eines Ghasels – einer arabischen Gedichtform – von Nadia Anjuman in der Handschrift Willbrands wiedergegeben. Auf den folgenden Seiten finden sich mit der Nähmaschine gestaltete Elemente, eine Anlehnung an den „Nähzirkel von Herat“: Genähte Linien formen aus Köpfen hervortretende Strukturen als Assoziationen an frei fließende Gedanken und Ideen. Sie enden mit dem Bild zweier Frauen in hellblauen Burkas. Die Kreativität verschwindet unter der Verschleierung. Auf der letzten Seite erinnert Carola Willbrand in einer kurzen Biografie an Nadia Anjuman.

Die drei Elemente des Künstlerbuches „Käfig“ vereinen sich durch die Verhüllung. Dabei verhüllt die Stola nicht nur die in den Innentaschen verborgenen Bücher, sie hat gleichzeitig performativen Charakter. Die schwarze Stola um die Schultern gelegt, wird man selbst zum Mann im schwarzen Mantel, mit den verborgenen Büchern in den Taschen und den Namen der verbotenen Autorinnen auf dem Rücken. Man wird aber auch zu einer der Frauen, die unter dem schwarzen Stoff verschwinden (Abb. 8).

Abb. 8: Carola Willbrand: Käfig, 2020. //www.hab.de/wp-content/uploads/2023/09/hab-hablog-kaefig-abb-8.jpg
Abb. 8: Carola Willbrand: Käfig, 2020.

Gemäß dem Titel ihrer Publikation „Alle meine Künstlerinnen sind Superheldinnen“ fokussiert Carola Willbrand ihre eigene Arbeit auf weibliche Autorschaft und Kreativität. Auf der Suche nach weiblichen Vorbildern und weibliche Vorbilder schaffend, widmet sie sich in ihren Performances und Künstlerbüchern explizit berühmten, aber auch zum Teil vergessenen Protagonistinnen. „Käfig“ ist das erste Buch der Künstlerin in der Sammlung der Herzog August Bibliothek und wurde 2021 erworben. Das Künstlerbuch ist eine von 20 vorgestellten Erwerbungen in der Neuerscheinung „Der rote Faden. Künstlerbücher der Herzog August Bibliothek 2000-2020“ (2023).

„Der rote Faden“ stellt eine Auswahl der buchkünstlerischen Erwerbungen der Herzog August Bibliothek aus den Jahren 2000 – 2020 in Text und Bild vor. Mit zahlreichen Abbildungen und Hintergrundinformationen werden Künstlerbücher von Buchkünstler*innen in den Blick genommen, die in ihren Themen, Materialien und Techniken ganz unterschiedlich sind und verdeutlichen, dass sich der rote Faden der Ankaufspolitik aus vielen Strängen konstruiert.


Titelbild: Carola Willbrand: Käfig. Erinnerungen hellblau.


Quodlibetica || HAB

Mai 2023: Lessings kleine Schrift "Das Testament von Johannis. Ein Gespräch" von 1777

Lessings kleine Schrift "Das Testament von Johannis. Ein Gespräch" von 1777 kommt im Exemplar Lo 4619 nicht nur frisch - in "rohen Bögen" (also unbeschnitten und ohne Heftung) - aus der Druckerpresse, es gibt sogar noch eine handschriftliche Kostenabrechnung für "das Druckelohn" von 1.500 Exemplaren auf "groß Papier".

Christoph Boveland
Christoph Boveland Kommissarischer Leiter der Abteilung Alte Drucke

Die transkribierte Notiz: "W[aisenhaus] Buchhandlung. Hirvon sind 1500 auf groß Papier abgedruckt, das Druckelohn davon beträgt - 3 rth. 24 g. Br[aunschweig] den 27. Dec. 1777 [Monogramm]"

Neben dem Exemplar auf "groß Papier" gibt es auch noch eine satzidentische Auflage auf kleinerem Papier (z. B. Exemplar Lo 4612 (10)). Die Auflagen unterscheiden sich nur im Abstand der Kolumnen. Aber wenigstens die Höhe der Auflage auf großen Bögen ist bekannt - was nur sehr selten der Fall ist.

Die handschriftliche Notiz zum „Druckelohn“ //www.hab.de/wp-content/uploads/2023/06/hab-lessings-kleine-schrift.jpg
Die handschriftliche Notiz zum „Druckelohn“

Mai 2023: Tagin - gekrönte Buchstaben in heiligen Schriften

Dr. Zina Cohen, Mitarbeiterin der Bundesanstalt für Materialforschung (BAM), untersuchte die Tinte von zwei Torarollen des 15. und 16. Jh. (Cod. Guelf. 148 und 149 Noviss. 2°) mit Hilfe der Röntgenfluoreszenz-Analyse (RFA).

Mit dieser Technik lassen sich Unterschiede in der Zusammensetzung der verwendeten Eisengallustinten feststellen. Denn mit dem bloßen Auge ist nicht sichtbar, ob beispielsweise die geheimnisvollen "Krönchen" auf manchen Buchstaben - die sogenannten Tagin - während des Schreibens der Tora oder erst in einer späteren Bearbeitungsphase hinzugefügt wurden. Tatsächlich finden sich in Torarollen eine Vielzahl von Schichten des Schreibens, Korrigierens und Nachbesserns, die durch instrumentelle, aber auch philologische und paläographische Untersuchungen im Rahmen eines interdisziplinären Projekts erforscht werden.

Dr. Zina Cohen bei der Untersuchung der Tora Rollen Dr. Zina Cohen bei der Untersuchung der Tora Rollen
Dr. Zina Cohen bei der Untersuchung der Tora Rollen

April 2023: Der Stein der Weisen?

Im Zuge des DFG-Projekts "Epistemischer Wandel: Stadien der frühneuzeitlichen Alchemie" hat die HAB Materialproben aus einer hauseigenen Handschrift (Cod. Guelf. 9 Noviss 2°) im Braunschweiger Fraunhofer Institut analysieren lassen.

PD Dr. Ute Frietsch
PD Dr. Ute Frietsch

In einem Konvolut mit alchemischen Handschriften der HAB befinden sich geheimnisvolle Materialproben in einem kleinen Papierumschlag. Um was handelt es sich dabei? Ist es gar der legendäre Stein der Weisen, der unedle Metalle in Gold und Silber verwandeln kann? Auch wenn letzteres eher unwahrscheinlich ist, wurden die kleinen Kristalle anlässlich des HAB-Forschungsprojekts „Epistemischer Wandel: Stadien der frühneuzeitlichen Alchemie“ im Braunschweiger Fraunhofer Institut für Schicht und Oberflächentechnik analysiert.

Aufnahme des untersuchten Materials. //www.hab.de/wp-content/uploads/2022/12/Stein-der-Weisen-s.jpg
Aufnahme des untersuchten Materials.

In weiterer Auswertung entpuppten sich die Steinchen der Weisen als ein Gemisch von Blei, Bleinitrat und Bleioxid mit Spuren von Nickeloxid. Die Probe weist erstaunlich viel elementares Blei auf. Das Gemisch findet sich in der Natur so nicht, da Blei selten und Bleinitrat wasserlöslich ist und Nickel in der Regel vermischt mit anderen Metallen, wie etwa Eisen, vorkommt, die in der Probe nicht enthalten sind. Das Gemisch dürfte demnach alchemisch hergestellt worden sein. Blei wurde alchemisch als ein Ausgangsmaterial zur Herstellung von Gold betrachtet, weil es ähnlich schwer und weich ist wie dieses. PD Dr. Ute Frietsch arbeitet an einer Rekonstruktion des authentischen Kontexts der Probe. Beratend tätig war der Chemiker Dr. Alexander Kraft (Gotha).