„Im Prozess permanenter Veränderung“ || HABlog – HAB

07.09.2021

Als Christopher Wilde (Los Angeles) im Jahr 2004 für seine Reise nach Deutschland die Koffer packte, legte er auch einen ungewöhnlichen Gegenstand hinein: Einen leeren, handgehefteten Buchblock aus Büttenpapier ohne Deckel. Dieser Buchblock war eine Einladung der Organik Art Group, vertreten durch Wilde selbst, Marshall Weber und Kurt Allerslev (beide New York) an die Künstlerinnengruppe ‹usus›. Der Name dieser Gruppe ergibt sich aus den Initialen ihrer zwei Begründerinnen: Uta Schneider (Offenbach am Main) und Ulrike Stoltz (Berlin). Schneider und Stoltz nahmen die Einladung an. So begann eine Zusammenarbeit, die ein langjähriger kollegialer Austausch voller Freundschaft und gegenseitiger Inspiration krönen sollte.

„Für dieses Buch gab es keine Spielregeln. Alles war erlaubt, jede Technik möglich“, beschreibt Ulrike Stoltz das Projekt. Die Künstler*innen gestalteten das Buch nacheinander und aufeinander aufbauend. Als Erste füllte Ulrike Stoltz die 196 Buchseiten in Handschrift mit ihrem Text Lady Mikado. Dieser verschwand dann zunehmend unter den verschiedenen Schichten von Farben und Formen, unter den Nähten, den Klebestreifen und Stempeln, die das Buch nach und nach füllten.

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„Der jetzt lesbare Text ist eine poetische Beschreibung dessen, was in dem Buch zu dem damaligen Zeitpunkt zu sehen war, was ich mit den abstrakten Formen spontan assoziierte – häufig Landschaftliches“, erzählt Ulrike Stoltz. Daher auch der Titel: Lady Mikado’s Landscape.

Da die Künstler*innen aufgrund vergangener Erfahrungen dem Postversand kein Vertrauen entgegenbrachten, reiste das Buch ausschließlich im Handgepäck über den Atlantik. Die amerikanischen Künstler nahmen an der Frankfurter Buchmesse teil, die Künstlerinnen hinter ‹usus› machten Vortragsreisen in die Vereinigten Staaten. So dauerte es acht Jahre, das Künstlerbuch fertigzustellen. Alle Künstler*innen antworteten mit ihrer Arbeit auf die Arbeit der Vorgänger*innen. Heute ist es selbst für die Beteiligten nicht immer möglich, zu unterscheiden, wer was wann hinzugefügt hat.

„Das Buch war im Prozess permanenter Veränderung“, sagt Stoltz. „Durch die radikale Freigabe des Buchraums kam es vor, dass Beteiligte die eigenen Spuren (Zeichnungen, Texte) beim nächsten Mal gar nicht oder in völlig veränderter Form wiederfanden, weil die Kolleg*innen Teile ausgeschnitten, zugeklebt oder übermalt hatten.“ Eine solche Zusammenarbeit erfordert uneingeschränktes Vertrauen darauf, dass die Partner*innen beim Arbeiten immer das Buch als Ganzes im Auge haben. Die künstlerische Identität muss zugunsten des Gesamtwerks zurücktreten, damit aus fünf eins werden kann.

Heute gehört Lady Mikado's Landscape zur Künstlerbuchsammlung der HAB. Marshall Weber, der als Teil der Organic Art Group ebenfalls an der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Werkes beteiligt war, erhielt für sein Projekt The Wolfenbüttel People’s Library 2019 den Künstlerbuchpreis der Herzog August Bibliothek. Stoltz und Weber verbindet eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit, die nun in Gestalt des Künstlerbuches in der HAB sicht- und greifbar geworden ist.

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Im Jahr 2020 verlieh die HAB gemeinsam mit der Curt Mast Jägermeister Stiftung den Künstlerbuchpreis an Ulrike Stoltz. Die Typografin und Buchkünstlerin war bis 2018 Professorin für Typografie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und gilt als Wegbereiterin und Vermittlerin des Genres Künstlerbuch. Ausgezeichnet wurde ihr Projektentwurf Caro Giordano. Resonanzen & Gestrüpp.  Im Verlauf eines Jahres fertigte sie hierzu ein Künstlerbuch an, das als „Kaleidoskop aus Texten und Bildern“ bezeichnet werden kann. Es nähert sich dem Leben und Wirken des Philosophen Giordano Bruno aus unterschiedlichsten Perspektiven und spürt verschiedensten Resonanzen nach. Den Ausgangspunkt dieser Spurensuche fand Ulrike Stoltz aber in der HAB: Es war der berühmte Brief, den Bruno am 6. Oktober 1589 in Helmstedt schrieb und den die Bibliothek aufbewahrt.

Am 9. September stellt Ulrike Stoltz im Rahmen der Preisverleihung das fertige Künstlerbuch Caro Giordano. Resonanzen & Gestrüpp zum ersten Mal dem Publikum vor. Die Veranstaltung wird per Livestream übertragen. Zusätzlich gibt es zu dem fertigen Ergebnis, dem Arbeitsprozess der Künstlerin und ihrer Inspiration durch die Werke Giordano Brunos eine kleine Ausstellung im Zeughaus. Mehr Informationen dazu gibt es hier: Caro Giordano – Preisverleihung und Präsentation des Künstlerbuchs – HAB

 

#HAB und Gut


Was macht eigentlich eine Fotografenmeisterin an der HAB? || HABlog – HAB

25.08.2021

HAB: Sie sind Fotografenmeisterin. Wie hat es Sie an die HAB verschlagen?

Michaela Weber: Das war ein glücklicher Zufall. Ich wollte eigentlich Bibliotheksassistentin werden und hatte mitbekommen, dass hier ein Ausbildungsplatz als Fotolaborantin zur Verfügung steht. Darauf habe ich mich beworben, aber auch noch eine Bewerbung hinterher geschoben zur Bibliotheksassistentenausbildung. Ich habe mir nicht allzu viele Hoffnung gemacht, hätte es nur zu gern gehabt, weil ich schon immer diese Faszination für alte Bücher hatte. Dann kam 1985 tatsächlich die Zusage für den Ausbildungsplatz zur Fotolaborantin. Ich habe die Ausbildung gemacht und das Glück gehabt, übernommen zu werden. Dann dachte ich mir irgendwann, es wäre schöner, wenn ich auch fotografieren könnte. Also habe ich eine verkürzte Fotografenausbildung gemacht und nach einigen weiteren Jahren bin ich zur Meisterschule gegangen und habe 2001 meine Prüfung abgelegt. Ich habe es nie bereut, dass ich mich für den fotografischen Berufszweig in der HAB entschieden habe.

 

Michaela Weber vor der Bibliothek. //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/08/hab-hablog-interview-fotografenmeisterin-vor-der-bibliothek.jpg
Michaela Weber vor der Bibliothek.

HAB: Was fasziniert Sie so an alten Büchern?

Michaela Weber: Ich bewundere, wie fein damals geschrieben wurde. Diese Feinheiten, die man in den Handschriftenminiaturen hat. Man sieht sie erst dann, wenn man die Digitalaufnahme vergrößert. Es ist unglaublich. Auf einmal sind da in den Wolken winzig kleine Gesichter. Diese Faszination ist da und wird immer bleiben.

In den letzten Jahren habe ich eine persönliche Faszination für Künstlerbücher entwickelt. Bei diesen modernen Büchern fehlte mir erst der Zugang. Aber mit der Restauratorin Katharina Mähler, die die Künstler selbst oft kennt und auch um deren Intentionen weiß, eröffnen sich mir völlig neue Welten. Zusammen überlegen wir, wie die Bücher ins rechte Licht zu setzen sind. Wie kommt das Wesen dieser Bücher zur Geltung? Eine faszinierende Arbeit, das genieße ich sehr.

HAB: Wie kommt es, dass Sie in der HAB mit Kameras arbeiten und nicht mit Scannern?

Michaela Weber: Diese Entscheidung war gar nicht so einfach. Ich habe aus meiner fotografischen Erfahrung gesagt: Ich möchte mit Kameras arbeiten. Scanner waren besonders in der Anfangszeit bei weitem nicht gut genug. Ich sollte auch sicherstellen, dass ich mich um die Geräte kümmern kann. Wenn bei unserer Spiegelreflex-Technik mal irgendwas hakt, kann ich mich selbst auf die Fehlersuche begeben und meistens bekomme ich es wieder hin. Außerdem bleiben wir so flexibel und müssen uns nicht an einen bestimmten Anbieter binden.

HAB: Welche Auswirkungen hatte die technische Weiterentwicklung auf Ihre Arbeit in der Fotowerkstatt?

Michaela Weber: Wir hatten das Glück, den Umbruch von analog zu digital mitgestalten zu können und sind richtig stolz darauf, wie wir die Fotowerkstatt weiterentwickelt haben. Als ich anfing, haben wir komplett analog gearbeitet. Filme wurden in unterschiedlicher Länge belichtet, entwickelt, auseinandergeschnitten, eingetascht, beschriftet; zuerst mit der Hand, später mit einer elektrischen Schreibmaschine. Es war ein finsterer Job mit wenig Tageslicht. Das Auftragsbuch wurde per Hand geführt. Manchmal kam es vor, dass sich ein Kunde nicht mehr an die Auftragsnummern erinnern konnte – dann verbrachten wir viel Zeit mit Suchen. Als die erste Auftragsdatenbank kam, das war großartig. Und die Arbeit im dunklem Fotolabor fiel weg. Dafür müssen wir jetzt mit der EDV-Stabsstelle immer sicherstellen, dass genügend Speicherplatz vorhanden ist. Auch die Weitergabe der Aufträge hat sich gewandelt: Zuerst haben wir Fotos verschickt, dann waren es CD-ROM, jetzt sind es Links zum Download.

HAB: Wie läuft ein Digitalisierungsauftrag ab?

Michaela Weber: Digitalisierungsaufträge kommen zunächst bei der Auskunft an. Dann wird bei der Restaurierwerkstatt angefragt, ob das Buch digitalisierbar ist. Die Kolleg*innen schauen: Was kann das Buch? Wie weit kann ich es aufschlagen? Worauf muss ich achten? Das Ergebnis bekommen wir schriftlich, zum Teil mit weiteren Hinweisen. Wir machen die Aufnahmen und legen die Bilder auf dem Server ab, kopieren sie noch auf ein Laufwerk für den Kunden-Download und machen eine ZIP-Datei daraus. Anschließend wird eine Rechnung und eine Email an den Besteller geschickt.

Wir sind im Haus sehr vernetzt und das ist schön, denn es gibt viele Rückfragen. Man hat auch oftmals unheimlich nette Kommunikation mit den Bestellern. Sie bedanken sich für das tolle Bild, für die nette Kommunikation oder dafür, dass es so schnell ging; das freut uns alle immer sehr.

HAB: Haben Sie gerade bei den kostbaren und seltenen Stücken auch manchmal Angst, ein Buch zu beschädigen?

Michaela Weber: Nein, aber wir gehen ja auch sehr vorsichtig vor. Wenn wir beim Digitalisieren merken, das tut dem Buch nicht gut, halten wir Rücksprache mit den Restauratoren. Es gibt immer mal wieder solche Fälle. Wir haben es in der Hand und merken, wenn ein Buch schon fast gequält seufzt beim Aufschlagen. Dann machen wir es gerne auch wieder zu. Jedes Buch ist einzigartig und muss auch so behandelt werden.

HAB: Welche verschiedenen Objekte haben Sie schon digitalisieren dürfen?

Michaela Weber: Das allermeiste sind Bücher. Aber natürlich hat die Bibliothek auch andere Objekte wie Büsten, Gemälde, die grafischen Sammlungen… Oder auch Besonderheiten wie Luthers Löffel, Luthers Trinkglas … Das sind die Dinge, die richtig Spaß machen.

HAB: Was war Ihr bisher aufregendstes Projekt?

Michaela Weber: Das aufregendste war eine etwa 10 Meter lange Thora-Rolle, die ich gemeinsam mit unserem Restaurator Heinrich Grau aufgenommen habe. Es war ein unheimlicher Aufwand. Wir haben sie zu zweit ausgerollt und die Aufnahmen immer nur segmentweise machen können. Wir mussten wahnsinnig vorsichtig sein, weil sie schon sehr alt und brüchig war.

HAB: Was sind die größten Herausforderungen bei Ihrer Arbeit?

Michaela Weber: Große Formate sind immer eine riesige Herausforderung. Die Karten zum Beispiel, weil sie aus vielen Einzelaufnahmen zu einem ganzen Bild zusammengesetzt werden müssen. Das Handling großer Formate ist insgesamt sehr aufwändig. Zum Teil sind die Bücher auch wirklich schwer und die Arbeit mit ihnen ist körperlich sehr belastend. Die immer gleichen Bewegungen sind nicht besonders rückenschonend. Es ist eine schöne Arbeit, aber auch eine anstrengende Arbeit.

HAB: Was wäre Ihr Wunschdigitalisierungsprojekt?

Michaela Weber: Das Evangeliar Heinrich des Löwen und Mathildes von England. Es gibt nur Scans von den alten Ektachromen von 1985. Die sehen furchtbar aus. Wir haben zwar alle digitalisiert, aber wo nichts ist, kann man auch nichts hervorzaubern. Schärfe kann man nicht simulieren, vergrünte Farben nicht viel schöner machen.

HAB: Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft an der HAB?

Michaela Weber: Dass wir unsere gute Kommunikation beibehalten. Die Bibliothek ist eine sehr offene Institution, die sich bewegen kann. Ich finde es schön, wenn die Bibliothek als eine Institution wahrgenommen wird, die mitten unter uns ist, wo jeder hingehen kann, um sich Wissen anzueignen, in der man gute Ansprechpartner findet und zu guter Letzt schöne Bilder bekommt.


Die obige Abbildung zeigt den Wolfenbütteler Buchspiegel. Diese Buchwippe wurde von der Herzog August Bibliothek in Zusammenarbeit mit den Firmen Fototechnik Kaiser und Image Engineering entwickelt und erlaubt die Digitalisierung empfindlicher Bücher bei einem buchschonenden Öffnungswinkel von nur 45°.


#HABehind the Scenes

#HABegegnung

„Nicht nur für den Beruf begeistert“ || HABlog – HAB

25.05.2021

Am Vormittag des 22. April 2021 herrschte an der Herzog August Bibliothek eine ungewöhnliche Atmosphäre. Einige Mitarbeiter*innen bewegten sich mit Tablets oder Smartphones, das Gerät direkt vor sich haltend und laut sprechend durch die Arbeitsräume, andere saßen vor farbenfrohen PowerPoint Präsentationen in ihren Büros. Hin und wieder ertönten aus den Geräten neugierige Kinderstimmen: „Warum lagerte Herzog August seine Bücher über dem Marstall?“, „Was passierte mit Frau und Kind von Gotthold Ephraim Lessing?“, „Wurde der Leibniz Keks nach Gottfried Wilhelm Leibniz benannt?“ – keine Frage blieb unbeantwortet.

Nachdem die Zukunftstage im Jahr 2020 gänzlich ausfallen mussten, fanden sie im Jahr 2021 überwiegend digital statt. 2.823 digitale Angebote für 89.454 Schüler*innen der Klassen fünf bis zehn gab es bundesweit. Darunter auch die Angebote der HAB. Nach einer gemeinsamen Begrüßung der 12 Mädchen und 9 Jungen durch den Direktor, Prof. Dr. Peter Burschel, gab Dr. Volker Bauer einen Einblick in die Geschichte und Gegenwart der Bibliothek. Anschließend beantworteten die Mitarbeiter*innen allgemeine Fragen, bevor es nach einer kurzen Pause in Kleingruppen weiterging. Die Mädchen bekamen dabei Einblicke in die von Männern dominierten Bereiche der HAB, wie zum Beispiel die EDV, die digitalen Geisteswissenschaften und die Forschung. Die Jungen wurden unter anderem in der Restaurierwerkstatt, der Abteilung für Veröffentlichungen und der Stabstelle für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aktiv.

Die größte Herausforderung für die Mitarbeiter*innen war es, den Schüler*innen im digitalen Format einen lebendigen Einblick in ihre Berufe und den Alltag an einer Forschungseinrichtung und Bibliothek zu vermitteln. Kreativität war gefragt und brachte viele unterhaltsame Vermittlungsmethoden hervor. „Generell ist ein Vor-Ort Besuch in der Restaurierungswerkstatt natürlich immer besser, um auch einen guten Eindruck von den verwendeten Materialien wie Leder, Pergament, Japanpapier etc. zu vermitteln bzw. bei der kleinen praktischen Arbeit Hilfestellung leisten zu können – aber ich war positiv überrascht, dass auch ein virtueller Werkstattbesuch durchaus funktionieren kann“, sagt Marenlise Jonah Höhlscher. Die Buchrestauratorin faltete im Rahmen des Zukunftstages mit den Schülern ein Origami-Buch und ermöglichte auf diese Weise trotz der Distanz eine praktische Erfahrung. Bei einer digitalen Führung mit dem iPad konnten die Jungen die Restaurierwerkstatt als Arbeitsplatz kennenlernen.

Zwei Häuser weiter führte auch Charleen Zander aus der Abteilung für Handschriften und Sondersammlungen drei Schülerinnen mit einem Smarthone durch die Räumlichkeiten der Herzog August Bibliothek. Zuvor hatten die Mädchen bereits eine kleine Schnitzeljagd absolviert. Zwischen Aufgabe und Lösung erschlossen sie sich die Welt mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handschriften sowie die Arbeitsweisen der Forscher*innen und Bibliothekar*innen.

Eine weitere iPad-Tour gab es auch in der Stabsstelle EDV. Hier konnten die Kinder den Serverraum besichtigen. Die Mitarbeiter*innen der Stabsstelle für Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Forschungsabteilung und der Abteilung für alte Drucke führten dagegen über PowerPoint Präsentationen und kleine Aufgabenstellungen in ihren Berufsalltag ein.

Im Bereich der Digitalen Geisteswissenschaften lernten die Schüler*innen die Wolfenbütteler Digitale Bibliothek und die Sammlungsschwerpunkte Handschriften, Drucke und Graphiken kennen. Anhand des virtuellen Kupferstichkabinetts erklärte ihnen Marcus Baumgarten den Einsatz von Such- und Datenbanktechniken, anschließend konnten sich die Mädchen in der Editionsarbeit ausprobieren, indem sie die Herausforderung annahmen, die Handschrift in einem Tagebuch des Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg (1599–1656) zu entziffern. Da in dem Text viele Personen vorkamen, bot sich die Anwendung eines weiteren Tools an: DLINA (Personennetzwerk deutschsprachiger Dramen). Die kleine Gruppe widmete sich besonders dem Harry Potter-Netzwerk und untersuchte, wie sich dieses von Band zu Band veränderte, um anschließend ein Fazit für die Handlung daraus ziehen zu können. Zum Schluss erstellte die Gruppe ihr eigenes Netzwerk.

Währenddessen machten die beiden Teilnehmer im Bereich der Veröffentlichungen ihre Motivation gleich deutlich. Sie haben sich gezielt für die Abteilung entschieden, da sie gern Geschichten schreiben und die Arbeit des Journalisten für sich anvisieren. „Die Jungen interessierten sich vor allem für den Weg zur Veröffentlichung eines Buches und fragten, wie das Buch in den Laden kommt. Beide machten sich sogar unermüdlich Notizen, weswegen wir unser Tempo drosselten, damit auch keine Information unnotiert blieb. Trotz der technischen Distanz, die mit dem Online-Meeting einherging, kam Spaß im Gespräch auf. Dadurch war es umso weniger bemerkbar, dass wir uns nur über den Bildschirm kennenlernen konnten“, berichten Jürgen May und Bianca Verhoef, die die Kleingruppe leiteten. Zum Schluss konnten sich die Schüler sogar das Design des eigenen Buches ausmalen. Vielleicht findet sich ja eines davon in einigen Jahren in den Regalen der Herzog August Bibliothek wieder.

 

#HABehind the Scenes

Wege der Ameise || HABlog – HAB

14.04.2021

 

Zu Beginn des Jahres tätigte die Herzog August Bibliothek einen besonders spannenden Ankauf: Das Künstlerbuch Wege der Ameise (2020) von Kai Pfankuch ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert. Zum einen handelt es sich um ein Unikatbuch - 120 Seiten handgeschriebene Texte auf halbtransparentem Chinapapier, begleitet von 52 Originalzeichnungen in japanischer Reibetusche und Aquarell. Der Hofheimer Künstler hat fast zwei Jahre daran gearbeitet. Zum anderen geht es inhaltlich über die kreative Verbindung von Kunst und Wissenschaft oder Text und Bild weit hinaus.

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Wege der Ameise ist eine reflektierende Analyse der Gesellschaft mit ihren sozialen Ordnungen, von der Antike bis hin zu einer Zukunftsvision. Angeregt durch Niels Werbers Buch Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte (2013), das sich mit Ameisen als Metaphern zur Selbstbeschreibung von Gesellschaft in literarischen Texten beschäftigt, versammelt Kai Pfankuch Textauszüge von Plinius d. Ä., Ovid, Apuleius, Brant, Perrière, Lessing, Lichtenberg, Schopenhauer, Baudelaire, Laßwitz, Wells, Simmel, Jünger, Huxley, Vian und Hölldobler, die er Wort für Wort mit der Zeichenfeder abschreibt. Allen Texten gemeinsam ist der Topos der Ameisen und die Frage, inwieweit deren Form des Zusammenlebens auch ein Modell des Menschen und seiner sozialen Organisation sein könnte.

In einzelnen Buchlagen entstehen leitbegrifflich ausgerichtete Themenblöcke: Mythos, Traum (Antike); Moral (Spätmittelalter, beginnende Neuzeit); Vernunft, Staat, Revolte (Zeit der Aufklärung); Großstadtmenge, Gewimmel (Stadtentwicklung Mitte 19. Jahrhundert); Satire, Horrorgeschichte (ausgehendes 19. Jahrhundert); Persönlichkeit und Masse, Abstraktheit des Lebens (Stadtentwicklung ausgehendes 19. und frühes 20. Jahrhundert); Totalitarismus, Uniformität, Krieg, Mensch-Maschine (Dystopie), Organisation (Schwarm). Die „Ameisentexte“ werden durchgängig begleitet von zwei Kapiteln aus der Science Fiction-Erzählung Der Unbesiegbare von Stanisław Lem (1964), die von einem Schwarm selbststeuernder elektronischer Teilchen als Endstufe einer ‚toten‘ Evolution von Maschinen handelt. Szenische Umsetzungen, Zeichnungen in Tusche und Aquarell, verbinden die literarischen Vorlagen miteinander. Die bildlichen Interpretationen, deren Farbskala von bedrohlich wirkendem Rot und kühlem Blau dominiert wird, zeigen Körperfiguren sowie Architekturdarstellungen und spielen assoziativ die unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Aspekte der Gesellschaftsordnung durch. Die utopischen Illustrationen der modernen kapitalistischen Massengesellschaft rufen Konnotationen von Technisierung, Automatisierung und Entfremdung hervor. Doch dieser Eindruck wird durch die feine, persönliche Handschrift des Künstlers immer wieder relativiert.

Neben dem Aspekt der Zeitlichkeit, der Rückwärts- und Vorwärtsgewandtheit von der Antike bis in die Zukunft, variiert Pfankuch auch die verschiedenen Dimensionen, indem er das zentrale Objekt, die Ameise, in schwarz-weiß gehaltenen Darstellungen vergrößert und das Insekt naturwissenschaftlich analysiert.

In ihrer Komplexität detailliert erfasst, durchwandern die regen Tiere, die immer in Bewegung scheinen, in ruhiger Ordnung die Texte. Taktung, Konformität und Struktur des Zusammenlebens der Ameisen zeigen den Kern, aber auch den Wandel sozialer Systeme. Mit Wege der Ameise schafft Kai Pfankuch eine Verbindung literarischer Inhalte und künstlerischer Ideen mit philosophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als Echo in Vergangenheit und Zukunft. Eine Gesellschaftsgeschichte im Künstlerbuch.


Über den Künstler:

Kai Pfankuch ist Maler, Zeichner und Buchkünstler. Seine Arbeiten entstehen ausschließlich auf Papier: großformatige (auch mehrteilige) Aquarelle, aquarellierte Zeichnungen mit Pinsel und Tusche, Lithographien, Siebdrucke und Radierungen. Seit 1994 stellt er Künstlerbücher her, die er im Eigenverlag der Ikarus-Presse herausgibt. In der Sammlung der Herzog August Bibliothek ist Pfankuch mit zehn Arbeiten vertreten. Für das Künstlerbuch Wege der Ameise hat er die literarischen Textvorlagen während eines Forschungsaufenthalts an der Herzog August Bibliothek recherchiert.


Bücher als Zeugen || HABlog – HAB

14.03.2021

Es war eine internationale Zusammenkunft mit dem sperrigen Titel „Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust“, die im Dezember 1998 nach Jahren von Schweigen und stiller Geschäftigkeit den Startpunkt einer intensivierten Suche nach bislang noch unentdecktem NS-Raubgut in Kultureinrichtungen auf der ganzen Welt markierte. In ihrem als „Washingtoner Erklärung“ bekannt gewordenen Abschlusspapier appellierten Vertreter*innen von mehr als 50 Staaten und Nichtregierungsorganisationen an die Verantwortlichen in staatlichen Verwaltungen wie auch in Museen, Archiven und Bibliotheken, ihre Sammlungen und Dokumentenbestände auf etwaige NS-Raubgut-Sachverhalte zu durchleuchten. Wo immer möglich, sollte vonseiten der Institutionen ein fairer und gerechter Ausgleich mit den ursprünglichen Eigentümer*innen oder ihren Nachfahr*innen gesucht werden.

Dieser Anstoß wurde in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit mit großem Engagement aufgenommen. In Anerkennung der besonderen historischen und moralischen Verantwortung von Sammlungsinstitutionen in Deutschland formulierten Bundesregierung, Länder und kommunale Spitzenverbände eine bindende Selbstverpflichtung. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes“ (1999) konstituiert ein konkretes Bekenntnis, die Erforschung der Herkunft von Sammlungen zu fördern, NS-Raubgut in den eigenen Beständen aufzufinden und dieses zu restituieren. Dieser Aufgabe stellt sich nun auch die HAB.

In der Praxis einer Sammlungseinrichtung bedeutet das intensive Recherchearbeit: Berge von Akten und Korrespondenzen, Zugangsverzeichnisse und nicht zuletzt die Objekte selbst müssen gesichtet und ausgewertet werden. Denn oft geben erst sie selbst wertvolle Informationen über ihre Herkunft und ihr Schicksal während der NS-Zeit preis. Im Fokus der Forschungsaufgabe, der sich die HAB im Rahmen eines vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekts verschrieben hat, stehen die hinsichtlich ihrer jüngeren Provenienzen noch kaum untersuchten antiquarischen Erwerbungen seit den 1960er-Jahren. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist hierbei inzwischen eine lange Besitzhistorie zu überbrücken. Ketten von fünf und mehr Vorbesitzer*innen allein im 20. Jahrhundert sind keine Seltenheit.

Auf die Betroffenen des NS-Kulturgutraubs verweisen in vielen Fällen nur noch kleine Hinweise in den einzelnen Bänden. Diese aufzufinden und mit historischen Personen oder Institutionen in Verbindung zu bringen, ist oft ein Akt von Kombination und Kriminalistik (so der Titel eines Forschungsbeitrags zum Thema von Ragnhild Rabius aus dem Jahr 2004). Denn durch geduldige Erfassungsarbeit und detektivischen Spürsinn können selbst gewaltsam zum Schweigen gebrachte Bücher noch zu Zeugen ihrer Geschichte werden. So etwa im Fall eines Bandes aus der ehemaligen Landesbibliothek Posen, in deren Besitzstempel der belastende Ortsname mit Flüssigkeit und einem scharfen Gegenstand unleserlich gemacht worden war.

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Zerstörter Stempel der ehemaligen Landesbibliothek Posen (in HAB: Xb 7235) //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/03/hab-hablog-rueth-buecher-als-zeugen-stempel.jpg
Zerstörter Stempel der ehemaligen Landesbibliothek Posen (in HAB: Xb 7235)

Ihn konnte das Projektteam durch den Abgleich mit zahllosen Stempelproben vergleichbarer Institutionen identifizieren und so den Band zum Sprechen bringen. Noch keine Hinweise gibt es dagegen zu den Eigentümer*innen eines zerstörten Exlibris in einem Band aus dem Jahr 1607 (s. Titelbild).

Licht in diese und ähnliche Zusammenhänge zu bringen, hat sich die HAB für die kommenden zwei Jahre vorgenommen. Ca. 30.000 Bände, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders ab den 1990er-Jahren teils einzeln, teils im Rahmen geschlossener Sammlungen erworben wurden, sollen systematisch erfasst und auf ihre Herkunft und ihren Verbleib während der NS-Zeit hin untersucht werden. Am Ende erhoffen sich die Projektverantwortlichen ein klareres Bild über den antiquarisch erworbenen Bestand der HAB und wertvolle neue Daten für die Provenienzforschung. Identifizierte Fälle von NS-Raubgut sollen öffentlich gemacht und im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten an die ursprünglichen Anspruchsberechtigten restituiert werden.

 

#HABewegt

 


Das zweijährige Projekt NS-Raubgut unter den antiquarischen Erwerbungen der Herzog August Bibliothek seit 1969 wird durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gefördert. Die Rechercheergebnisse werden im Rahmen des lokalen Bibliothekskatalogs bzw. des Verbundkatalogs sowie – bei erhärtetem NS-Raubgut-Verdacht – in der Objektdatenbank Lost Art und der Forschungsdatenbank Proveana des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste dokumentiert.

Identität und Wandel || HABlog – HAB

26.02.2021

HAB: Von der Umsetzung bis zum fertigen Konzept – wie lange hat der Prozess rund um das neue Corporate Design für die HAB gedauert? Worin lagen die Herausforderungen?

Simone Schöler: Wir starteten im Mai 2017 mit mehreren intensiven Workshop-Tagen. Zusammen mit Beteiligten aus vielen verschiedenen Bereichen des Hauses haben wir hier eine Positionierung erarbeitet, sie ist das konzeptionelle Grundgerüst für das neue Corporate Design der HAB. Ende August wurde die eigentliche Gestaltung dann der gesamten Belegschaft in der Augusteerhalle präsentiert und mit der Übergabe des Gestaltungshandbuches im November war die Arbeit am Corporate Design abgeschlossen.

Wir haben bei unseren Besuchen in Wolfenbüttel viele Gespräche geführt und gute Eindrücke gewinnen können. Neben den Ergebnissen der Workshops spielten sie bei der Entwicklung des Designs eine wesentliche Rolle. Das neue Erscheinungsbild sollte insbesondere die große Reputation der HAB als ein international anerkannter Forschungsstandort herausstellen. Es war uns daher wichtig, nicht nur die Geschichte der Bibliothek zu befragen, sondern diese vor allem mit einer zeitgemäßen Formensprache in der Gegenwart und Zukunft zu verorten und damit auch einem Generationenwechsel insbesondere in der wissenschaftlichen Community Rechnung zu tragen. Die Vielseitigkeit des Standortes – Forschungseinrichtung, touristisches Ziel, musealer Raum, Veranstaltungsort für Kulturelles – sollte vor allem auf der Webseite klarer kommuniziert werden. Eine Herausforderung lag darin, damit sehr unterschiedliche Zielgruppen – Tagestourist*innen, Doktorand*innen, Schüler*innen, Kulturpublikum – gleichzeitig anzusprechen. Dass wir hier zusammen mit der Kommunikationsabteilung, der Leitung und vielen involvierten Mitarbeiter*innen der HAB einen sehr gut sortierten und strukturierten Zugang für diese verschiedenen Zielgruppen geschaffen haben, sehen wir als einen großen Erfolg in der Zusammenarbeit an.

HAB: Warum ist ein neues Corporate Design für die HAB so wichtig?

Simone Schöler: In der Außendarstellung der Herzog August Bibliothek hatten sich über die Jahre viele Unschärfen eingeschlichen – durch die Benutzung in vielen verschiedenen Abteilungen mit unterschiedlichen Bedürfnissen war eine klare Erkennbarkeit und grafische Ausdruckskraft verloren gegangen. Insbesondere die Webseite folgte nicht mehr in allen Bereichen einem nutzerfreundlichen Aufbau. Für die Bibliothek und den Forschungsstandort ist es elementar, in einem internationalen Umfeld erkennbar und gut strukturiert aufzutreten. Nur so können die einzelnen Teile – Webseite, Publikationen, Ausstellungsplakate usw. – zusammen ein angemessenes Bild von der Vielfältigkeit ›unter einem Dach‹ vermitteln.

Mehr Ausdruckskraft durch starke Farben: Das Corporate Design der Publikationen der Wolfenbüttler Hefte im Vergleich: Links das alte Design, rechts das neue https://www.hab.de/wp-content/uploads/2021/02/hab-blog-identitaet-und-wandel-publikationen-vergleich-700x500.png
Mehr Ausdruckskraft durch starke Farben: Das Corporate Design der Publikationen der Wolfenbüttler Hefte im Vergleich: Links das alte Design, rechts das neue

HAB: Mit Blick auf das neue Design-Konzept - welche Schriftarten stehen  im Fokus und was sind ihre Vorzüge?

Simone Schöler: Wir haben zwei Schriften eines international ausgerichteten Schriftenhauses ausgewählt. Die Schweizer Type-Foundry Grilli Type entwirft hochqualitative Schriftsätze, die die Formensprachen historischer Entwürfe mit zeitgenössischen Stilen intelligent kombinieren. GT America für Headlines und Infotext kombiniert exzellente Schweizer Typografie mit Details der amerikanischen Postmoderne. GT Sectra für Fließtext und Titeleien in der Buchgestaltung macht darüber hinaus die Pionierleistung des Buchdrucks erfahrbar und transformiert diesen Geist mit Ecken und Kanten in einen charakteristischen Gegenwartsentwurf.

Verwandtschaft: Die ersten Skizzen für die GT Sectra sind von der Fraktur inspiriert. Viele dieser Eigenschaften wurden in den finalen Schriftentwurf übersetzt. //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/02/hab-hablog-identitaet-und-wandel-schriften.jpg
Verwandtschaft: Die ersten Skizzen für die GT Sectra sind von der Fraktur inspiriert. Viele dieser Eigenschaften wurden in den finalen Schriftentwurf übersetzt.

Wir sahen es als Kern unseres Auftrags an, die Geschichte, die Quelle des Wissensschatzes der HAB, in einem zeitgenössischen Stil weiterzuerzählen. Die Grilli Schriften leisten genau diesen Transfer, indem sie einen klassischen Antiqua-Entwurf mit zeitgenössischen Details ergänzen.

HAB: Die neuen Farben wecken eine Vielzahl an Assoziationen…

Simone Schöler: Zu Beginn unserer Arbeit für das neue Erscheinungsbild unternahmen wir mehrere Streifzüge durch die Bibliotheks- und Ausstellungsräume. Neben vielen schwarzen Lettern auf weißem Grund entdeckten wir auch sehr farbenfrohe, leuchtende Bildtafeln. Die Kraft und Ausdrucksstärke, die aus diesen Beispielen historischer Buchkunst spricht, wollten wir sichtbar machen und haben daher einen besonderen Akzent auf die Verwendung von Farbe gesetzt.

Das Logo der HAB im neuen Corporate Design in verschiedenen Farbvarianten. https://www.hab.de/wp-content/uploads/2021/02/hab-blog-logo-400x331.png
Das Logo der HAB im neuen Corporate Design in verschiedenen Farbvarianten.

HAB: Das Logo ist nun viel minimalistischer. So weisen die Buchstaben unterschiedliche Stärken auf. Was verbirgt sich dahinter?

Simone Schöler: Wir haben dem Logo der HAB damit einen Archivcharakter gegeben. Es erinnert an ein Ordnungssystem, von links nach rechts, von oben nach unten und spiegelt den Auftrag einer Bibliothek wieder: Suchen, Finden, Wissen. Durch die Anordnung der Zeichen entsteht ein wiedererkennbares Bild. Die unterschiedliche Strichstärke der Zeichen deutet einen Fokus auf das Zentrum an. Wie unter einem Brennglas stehen die Zeichen hier in stärkerem Gewicht und dünnen nach außen hin aus.

Kräftige Farben und Typografie statt bebilderte Coverdarstellungen der Publikationen - Typografie und Farbwelt bilden eine visuelle Klammer, die die vielen Veröffentlichungen verbindet. Jede Publikation wird zu einem auf den ersten Blick erkennbaren ›Botschafter‹ der Bibliothek.

Simone Schöler, Managing Partnerin
Simone Schöler, Managing Partnerin Agentur anschlaege.de

HAB: Welche Kriterien waren für Sie bei der Gestaltung des neuen Corporate Designs besonders relevant?

Simone Schöler: Mit der neuen Struktur der Website wollen wir den Benutzer*innen zwei Zugänge ermöglichen. Zum einen sollten sie bestimmte Inhalte und Informationen gezielt suchen können, was durch das übersichtliche Hauptmenu erleichtert wird. Zum anderen sollte es aber auch möglich sein, die Bibliothek und ihre Angebote ohne Vorwissen oder konkrete Fragestellung zu entdecken. Die Übersichtsseiten der Bereiche »Forschung, Bibliothek, Kultur« laden die Benutzer*innen ein, sich von den Angeboten und Einblicken in die Arbeit der HAB inspirieren zu lassen.

Die Herzog August Bibliothek ist ein Wissenscampus, der Angebote für unterschiedlichste Interessen macht. Das möchte das gesamte neue Corporate Design vermitteln, sowie eine Wertschätzung gegenüber jeder Besucherin und jedem Besucher, sei es ein Tagestourist oder eine Stipendiatin. Es soll ihnen darüber hinaus zeigen, dass sich die HAB als Wissenschaftsstandort und Ort der Kulturvermittlung trotz ihrer überwiegend historischen Bestände an Gegenwart und Zukunft orientiert.

 

#HABehindTheScenes #HABegegnung


Zum Schatz erwählt || HABlog – HAB

03.02.2021

Das Projekt „Weltwissen. Das kosmopolitische Sammlungsinteresse des frühneuzeitlichen Adels" beschäftigt sich mit den fürstlichen Privatsammlungen des 18. Jahrhunderts. Es werden insbesondere Sammelpraktiken sowie das damit einhergehende kulturelle und wissenschaftliche Interesse des fürstlichen Adels in den Blick genommen. Die sogenannten Fürstenbibliotheken kamen nach dem Tod ihrer Besitzer*innen in die Wolfenbütteler Bibliothek, wo sie zunächst als individuelle Sammlungen aufgestellt, später dann aber in den Gesamtbestand integriert wurden. Heute ist die Mehrzahl dieser Bücher Teil der Mittleren Aufstellung der HAB und die historischen Sammlungen sind nicht mehr als solche erkennbar.

Auf Basis bisher unerschlossener Kataloge und Inventare können wir die fürstlichen Privatbibliotheken mit großer Genauigkeit virtuell rekonstruieren und mit Hilfe des Programms LibReTo visualisieren. Ergänzend dazu suchen wir die Originalexemplare im heutigen Bestand der Herzog August Bibliothek, um weitere Provenienzen zu ermitteln und das Bild zu komplettieren. Dabei helfen uns typische äußere Merkmale der Bücher, wie etwa Einbandgestaltung oder die Präsenz von Supralibros, einem Monogramm, das auf ein Buch geprägt wurde und damit den Besitz kennzeichnete.

Supralibros der Herzogin Philippine Charlotte //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/02/hab-hablog-zum-schatz-erwaehlt-supralibros-herzogin-philippine-charlotte-1.jpg
Supralibros der Herzogin Philippine Charlotte

Zusätzlich werden die einzelnen Bücher auf Gebrauchsspuren wie etwa Notizen oder Unterstreichungen untersucht. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden mit Hilfe von weiteren Quellen aus den fürstlichen Nachlässen in einen größeren Kontext gesetzt, um schließlich ein genaues Bild der Inhalte der Bibliotheken und der Benutzung der Bücher zu erhalten.

In einem nächsten Schritt können wir die Funktion der Sammlungen für ihre Besitzer*innen untersuchen. Im ersten Jahr des Projekts standen dabei die Bibliotheken von Elisabeth Sophie Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel (1683–1767) und Philippine Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel (1716–1801) im Fokus. Beide Frauen besaßen umfassende Sammlungen von jeweils mehreren tausend Büchern, die sie bis an ihr Lebensende pflegten und nutzten.

Für die Frauen stand einerseits die persönliche Weiterbildung im Vordergrund, wie durch Briefe, Selbstzeugnisse und handschriftliche Einträge in den Büchern nachvollzogen werden kann. So schrieb Philippine Charlotte etwa an ihren Bruder Friedrich den Großen, dass sie jede Gelegenheit nutze, um sich weiterzubilden und dass ihre Bücher ihr dabei halfen, „ihren Geist nicht einrosten zu lassen“ („je cherche tous les moyens pour m’instruire, c’est l’unique ressource à mon age pour empecher de s’enrouiller l’esprit“).

Sie eigneten sich mit Hilfe ihrer Bücher Wissen an, das ihnen eine Teilhabe am zeitgenössischen kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs ermöglichte. Außerdem waren ihre Bibliotheken soziale Räume. Nicht selten empfingen sie hier Gäste, denen sie ihre Sammlungen zeigten und mit denen sie über die neueste Lektüre diskutierten. Besonders die berühmte Bibelsammlung Elisabeth Sophie Maries lockte mit ihren 1200 Exemplaren viele Besucher*innen, darunter namhafte Gelehrte wie etwa Johann Christoph Gottsched oder Johann David Köhler, an. Davon zeugen die über 250 Einträge im Stammbuch der Herzogin, in dem die Gäste sich verewigen durften.

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Stammbuch der Herzogin Elisabeth Sophie Marie

Wenngleich die Sammlung Ausdruck der tiefen Frömmigkeit der Fürstin war, war sie auch ein wesentlicher Beitrag zur Bibelgelehrsamkeit dieser Zeit – ein Aspekt, den es in den kommenden Jahren weiter zu erforschen gilt.

Es blieb aber nicht nur beim Empfangen von Gästen. Die Fürstinnen gestatteten Gelehrten den Gebrauch ihrer Bücher und unterstützen sie finanziell, erhielten im Gegenzug Widmungen und das damit einhergehende soziale Prestige. Elisabeth Sophie Marie förderte etwa über Jahrzehnte hinweg den berühmten Theologen Johann Lorenz von Mosheim, Philippine Charlotte unterstützte mehrere am Braunschweiger Collegium Carolinum tätige Gelehrte. Die Bibliotheken waren damit auch zentral für das kultur- und wissenspolitische Engagement der Fürstinnen.

Schließlich können wir beobachten, wie die Bibliotheken eine wirtschaftliche Funktion erfüllten. Nicht nur akkumulierten die Fürstinnen mit ihren Sammlungen soziales Kapital, sondern auch reale monetäre Werte, die es zu verwalten und zu vermehren galt. Allein schon die hohen Summen, die die Fürstinnen für ihre Bibliotheken ausgaben, zeugen von dem hohen Stellenwert, den die Bücher in ihrem Leben einnahmen. Aus gutem Grund bezeichnete Elisabeth Sophie Marie ihre Sammlung als „Schatz“.

Das Sammeln von Büchern war demnach mehr als nur eine Nebenbeschäftigung. Für die Wolfenbütteler Fürstinnen und Fürsten waren die Bibliotheken ein integraler Teil ihres Alltags: Sie dienten der Herrschaft, waren Orte der Repräsentation, aber eben auch der privaten Weiterbildung und des Vergnügens. In den kommenden Jahren gilt es, eben diese Vielschichtigkeit weiter zu untersuchen, um damit das Sammeln als elementare kulturelle Praxis der Frühen Neuzeit noch besser zu verstehen.

 

#HABewegt #HAB und Gut

 


Das Projekt „Weltwissen. Das kosmopolitische Sammlungsinteresse des frühneuzeitlichen Adels ist eine von zwei Fallstudien, die im Rahmen des Forschungsverbunds MWW an der HAB durchgeführt werden. Beide haben das Ziel, bestandsbezogene Forschung mit Hilfe digitaler Methoden weiterzuentwickeln. Das Projekt Intellektuelle Netzwerke. Frühneuzeitliche Gelehrtenbibliotheken als Wissens- und Kommunikationsräume möchten wir Ihnen in einem unserer nächsten Beiträge vorstellen.

Aus weiblichen Händen || HABlog – HAB

Das von der Polonsky Foundation geförderte Projekt hat zum Ziel, die Sammlungen mittelalterlicher lateinischer und deutscher Handschriften aus hauptsächlich norddeutschen Kloster- und Stiftsbibliotheken für die Forschung und Nachnutzung bereitzustellen. Seit Projektbeginn im Dezember 2018 wurden an der HAB bereits 205 Handschriften digitalisiert und können auf der Homepage des Projekts angesehen werden.

Die Tatsache, dass es sich unter all den hauptsächlich von Männerhand geschriebenen Handschriften in diesem Fall um Bücher von Schreiberinnen handelt, ist lediglich einer von vielen Aspekten, die die Lamspringer Sammlung mit ihren 23 Bänden so außergewöhnlich machen. Zu bieten haben diese mittelalterlichen Werke darüber hinaus eindrucksvollen Buchschmuck, womit sie aus kunsthistorischer Sicht eine überaus reizvolle Gruppe illuminierter Handschriften bilden. Für das Digitalisierungsprojekt wurden 16 Kodizes ausgewählt, die dieser Beitrag in Bezug auf ausgesuchte Merkmale etwas genauer unter die Lupe nimmt. Zwölf davon sind augenblicklich bereits online zu erkunden.

Um 850 von Graf Ricdag und dessen Frau Emhild ursprünglich als Kanonissenstift – ein eher weltliches und damit freieres Modell des Zusammenlebens – im Süden der Diözese Hildesheim gegründet, unterstand das um 1130 zur Benediktinerinnenabtei umgewandelte Kloster nicht nur der geistlichen, sondern auch der wirtschaftlichen und politischen Obhut der Hildesheimer Bischöfe. Es galt im 14. Jahrhundert als eines der wohlhabendsten und bestausgestattetsten Klöster im niedersächsischen Raum. Der Bestand von 23 Handschriften (davon 20 Bände mit theologischen Schriften und drei liturgische Werke) veranschaulicht, dass es sich bei den Schreiberinnen und Illustratorinnen um Ordensschwestern handelte, deren sprachliche und theologische Bildung der von Mönchen aus den bislang besser erforschten männlichen Orden in nichts nachstand. Außerdem wird hier einmal mehr deutlich, dass sowohl die Schreibstube (das sog. Skriptorium, von lat. scribere – schreiben) als auch die Bibliothek, die die entstandenen Werke sammelte, bereitstellte und verwahrte, die Institution Kloster stark prägten und auszeichneten.

Bis zur Entwicklung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts fungierte nicht Papier, sondern das in seiner Beschaffenheit robustere Pergament als Schriftträger. Dessen Herstellung war aufwendig und bedeutete schwere körperliche Anstrengung: Im deutschsprachigen Raum wurden vorwiegend Häute von Kälbern, in wenigen Fällen von Schafen verwendet, die zuerst in Spannrahmen fixiert, abgeschabt und schließlich gekalkt wurden, um ein Verlaufen der Tinte und Farben im Schreibprozess zu verhindern. Die passend zugeschnittenen und gefalteten Pergamentbögen wurden zu Lagen zusammengeheftet, liniert, beschrieben und später zu einem Buch zusammengebunden.

Abb. 1: Ganzseitige Miniatur eines Schreibers an seinem Pult, der seine Schreibfeder schärft, bevor er den Text auf das bereits linierte Doppelblatt kopiert (Cod. Guelf. 1030 Helmst., fol. 1v, 1151–1175) //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/01/hab-hablog-aus-weiblichen-haenden-abb-1-cod.-guelf.-1030-helmst.-fol.-1v.jpg
Abb. 1: Ganzseitige Miniatur eines Schreibers an seinem Pult, der seine Schreibfeder schärft, bevor er den Text auf das bereits linierte Doppelblatt kopiert (Cod. Guelf. 1030 Helmst., fol. 1v, 1151–1175)

Schreiberin, Rubrikatorin und Illustratorin, also Gestalterin der dekorativen Initialen und allen weiteren Buchschmucks, konnte ein und dieselbe Person sein. Für den Buchschmuck wie Initialen oder Miniaturen ließen die Schreiberinnen beim Übertragen der Textvorlage auf die zusammengehefteten Pergamentlagen etwas Platz, der jedoch nicht selten übersehen wurde und damit leer blieb. Neben mindestens 28 Schreiberinnen, die Kenner*innen für den Zeitraum von 1170 bis 1204 unterscheiden können, sind für das 12. Jahrhundert zwei Schreiberinnen sogar namentlich bekannt: Odelgarde und Ermengarde. Laut eines Kolophons (Schreibervermerk) gab es zudem eine dritte scriptrix (Schreiberin). Stiltechnisch lassen sich ihre Schriften in die Übergangsphase von der (späten) karolingischen zur frühen gotischen Minuskel einordnen, womit das Schriftbild insgesamt kantiger, spitzer und rechteckiger wirkt und sich der Raum zwischen den einzelnen Buchstaben innerhalb eines Wortes merklich verringert.

Mit Blick auf den Buchschmuck lässt sich festhalten, dass die Lamspringer Nonnen sorgfältig und mit einiger Liebe zu ornamentalem Detail arbeiteten. So finden sich in den Pergamentkodizes zahlreiche größere zoomorphe und figurative Initialen, die in (Fantasie-) Tierköpfe, -körper oder florale Elemente auslaufen.

Abb. 2: Zoomorphe S-Initiale zu Beginn der Moralia in Hiob von Papst Gregor dem Großen in Cod. Guelf. 443 Helmst., fol. 2r, 1176–1200 //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/01/hab-hablog-aus-weiblichen-haenden-abb-2-cod.-guelf.-443-helmst.-fol.-2r-2.jpg
Abb. 2: Zoomorphe S-Initiale zu Beginn der Moralia in Hiob von Papst Gregor dem Großen in Cod. Guelf. 443 Helmst., fol. 2r, 1176–1200

Die Buchstabenschäfte und –enden der Initialen sind häufig mit Halbpalmetten verziert. Die Abstriche der Q-Initialen bestehen wiederholt aus Körpern von Drachen, die Blattranken speien und/oder deren Schwänze in eben solchen enden, wie es in Cod. Guelf. 510 Helmst., fol. 133r sowie relativ farbenfroh in Cod. Guelf. 443 Helmst., fol. 2r der Fall ist.

Abb. 3: Figurative und zoomorphe Q-Initiale mit Drachenkörper, in der der Heilige Geist acht Heiligen als Taube erscheint (Cod. Guelf. 510 Helmst., fol. 133r, 1151–1175) //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/01/hab-hablog-aus-weiblichen-haenden-abb-3-cod.-guelf.-510-helmst.-fol.-133r.jpg
Abb. 3: Figurative und zoomorphe Q-Initiale mit Drachenkörper, in der der Heilige Geist acht Heiligen als Taube erscheint (Cod. Guelf. 510 Helmst., fol. 133r, 1151–1175)

Rot, Grün und Blau sind die vorwiegend verwendeten Farben, wie es ebenfalls in der figürlichen Darstellung des heiligen Augustinus (354–430) zu sehen ist (Abb. 4): Ausgestattet mit Mitra und Bischofsstab auf einer Art Thron sitzend präsentiert er der Leserschaft eine aufgeschlagene Doppelseite (lat. bifolium) mit den Worten Pater noster – dem Vaterunser. Sowohl das Ornat des Kirchenvaters als auch der Vorhang, vor dem er sitzt, sind mit einem Faltenwurf ausgestaltet, letzterer ist sogar zudem mit einem roten Dreipunktmuster versehen.

Abb. 4: Augustinus thront in der Q-Initiale mit dem aufgeschlagenen lateinischen Vaterunser (Cod. Guelf. 204 Helmst., fol. 3v, 1176–1200) Fotografie von Dr. Stefanie Westphal //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/01/hab-hablog-aus-weiblichen-haenden-abb-4-cod.-guelf.-204-helmst.-fol.-3v.jpg
Abb. 4: Augustinus thront in der Q-Initiale mit dem aufgeschlagenen lateinischen Vaterunser (Cod. Guelf. 204 Helmst., fol. 3v, 1176–1200) Fotografie von Dr. Stefanie Westphal

Daran erinnert die Darstellung Papst Gregors (540–604) im Bogen der P-Initiale (Abb. 5), die der des Augustinus stilistisch und farblich sehr ähnelt und womöglich von derselben Illustratorin ausgestaltet wurde. Auch der Text könnte dem Schriftbild nach zu urteilen von derselben Schreiberin stammen, wie wir sie in 204 Helmst. vor Augen haben.

Abb. 5: Der Heilige Geist inspiriert Papst Gregor I. in Gestalt einer Taube (903 Helmst., fol. 75v, Beginn 4. Viertel 12. Jh.) Fotografie von Dr. Stefanie Westphal //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/01/hab-hablog-aus-weiblichen-haenden-abb-5-cod.-guelf.-903-helmst.-fol.-75v.jpg
Abb. 5: Der Heilige Geist inspiriert Papst Gregor I. in Gestalt einer Taube (903 Helmst., fol. 75v, Beginn 4. Viertel 12. Jh.) Fotografie von Dr. Stefanie Westphal

Es ist festzuhalten, dass das hochmittelalterliche Benediktinerinnenkloster in Lamspringe über ein ausgesprochen kreatives Skriptorium verfügte. Im Zuge der Reformation wurden die Klöster und deren Bibliotheken aufgelöst, und oft bleibt ungewiss, welchen Weg die Bücher einschlugen. Im Fall des Lamspringer Handschriftencorpus sorgte Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg im Jahr 1572 dafür, dass die 23 Handschriften Teil seiner Sammlung in der Wolfenbütteler Residenz wurden. Damit sind sie uns noch heute erhalten, um sie weiter zu erforschen.

 

#HABewegt  #HAB und Gut

 


Wenn Sie mehr zum Thema erfahren möchten:

Die Buchmalerei der Lamspringer Nonnen wird derzeit in einem Katalogisierungsprojekt zu den illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek von Dr. Stefanie Westphal erschlossen.

Weiterführende Literatur:

  • Helmar Härtel (Hrsg.), Geschrieben und gemalt. Gelehrte Bücher aus Frauenhand: Eine Klosterbibliothek sächsischer Benediktinerinnen des 12. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Ausstellungskatalog 86), Wolfenbüttel 2006.
  • —, „Gelehrte Bräute Christi. Zur Umstrukturierung der Frauenklöster im Hochmittelalter: Ein neues Ideal geistig-geistlichen Lebens,“ in: Die gelehrten Bräute Christi. Geistesleben und Bücher der Nonnen im Mittelalter, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbütteler Hefte 22), Wiesbaden 2008, 7–13.

 

Weitere Blogbeiträge zum Projekt „Handschriften aus dem deutschen Sprachraum“ sowie zur Erstellung mittelalterlicher Handschriften:


Das Curriculum an einer frühneuzeitlichen Universität || HABlog – HAB

Der Segen der Rechenschaft

Für die Academia Julia (1576‒1810) in Helmstedt, die Landesuniversität des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg, sind uns Rechenschaftsberichte von Professoren in vielfacher Form und sehr großer Dichte für einen Zeitraum von nicht weniger als 100 Jahren (ca. 1650 ‒ ca.1750) in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und im Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel überliefert. Diese handschriftlichen und lateinischsprachigen Zettel, auch ‚Monatszettel‘ genannt, bilden heute so wertvolle Quellen, weil sie sich mitunter umfassend in Serie, d.h. von Woche zu Woche, Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr, ja sogar von Dekade zu Dekade, relativ geschlossen auswerten lassen.

Dabei wurde ein eigentlich offensichtlicher Quellenwert bislang nur wenig beachtet: die Möglichkeit, mit Hilfe ihrer Auswertung universitäre Lehrinhalte ganzer Semester rekonstruieren zu können. Ins nähere Interesse rücken dabei diejenigen Professoren, die besonders gewissenhaft Rechenschaft über ihre Lehrveranstaltungen abgelegt haben. Wir erhalten durch sie Antworten auf viele Fragen, etwa nach Kontinuität und Wandel bestimmter Lehrinhalte sowie nach deren Gewichtung und Schwerpunkte an einer frühneuzeitlichen Universität.

 

Ein kurzes Semester Philosophiegeschichte in Helmstedt: Februar ‒ April 1688

Wie viel wurde also an der Universität Helmstedt in einem Semester unterrichtet? Wie viel Zeit entfiel auf diese oder jene Themen und Inhalte? Und was sagt uns das über die Ausrichtung der universitären Lehre und der ihr zugrundeliegenden Lehrdoktrinen? Sehr aufschlussreich für diese und weitere Fragen sind die Rechenschaftsberichte des Helmstedter Philosophie- und späteren Theologieprofessors Johann Barthold Niemeier (1644‒1708), der mehr als 30 Jahre durchgehend in Helmstedt unterrichtet hat. Niemeier notierte seit dem Wintersemester 1680/81 seine Berichte nicht mehr im üblichen Kurztextformat, sondern listete alle Unterrichtstage einzeln tabellarisch auf und machte Angaben zu den jeweils pro Tag unterrichteten Lehrgegenständen. Auch wenn uns dies de facto keinen vollständigen Semesterplan eines frühneuzeitlichen Professors liefert, so erhalten wir durch tabellarische Rechenschaftsberichte solcher Art doch am ehesten verlässliche Informationen über die von den jeweiligen Professoren angestrebte inhaltliche Konzeption ihrer Lehre.

Besonders erhellend ist hier die von Niemeier in der ersten Jahreshälfte 1688 gehaltene Vorlesung über die Geschichte der Philosophie. Wie der Aufbau der Lehrveranstaltung zeigt, orientierte er sich dabei an einem zeitgenössischen Geschichtsmodell, das die biblisch-heilsgeschichtliche Chronologie zur Grundlage der Menschheits- und Philosophiegeschichte machte: Für einen lutherischen Gelehrten wie Niemeier leitete sich die Philosophie demzufolge von Gott her und Adam – als erster Mensch – sowie dessen Nachfahren bis Noah waren zugleich auch die ersten Philosophen gewesen. Weitere biblische und antike Völker, wie die Babylonier, Kanaaniter, Ägypter, Kelten oder Skythen folgten und hatten, wie der Professor fast den gesamtem Februar zu dozieren weiß, allesamt ihre Philosophien vorzuweisen.

Danach folgt der größte Teil der Vorlesung: die Philosophien der Griechen und ihr Nachwirken. Die Vorsokratiker, samt Sokrates, werden in einem halben Monat absolviert (01.‒15. März). Auf Platon und die Geschichte der auf ihn gründenden Akademie entfallen immerhin sechs Sitzungen (16.‒26. März). Wie die Eintragung vom 23. März zeigt, war Niemeier dabei durchaus bewusst, dass die platonische Philosophie im Laufe der Zeit, insbesondere in der sogenannten Neueren Akademie, Änderungen, ja Verfälschungen, zum Opfer gefallen war: nova Academia a Platonis dogmatibus deflexerit. Zu solchen Eintragungen hätten wir oft gerne mehr Details. Häufig ergibt sich ein tieferer Einblick aber durch die thematisch korrelierenden und im betreffenden Semester abgehaltenen Disputationen, die die Professoren von Semester zu Semester durch Studenten verteidigen und anschließend im Druck publizieren ließen.

Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Wolfenbüttel: 37 Alt Nr. 2518 fol. 94 //www.hab.de/wp-content/uploads/2020/11/hab-hablog-curriculum-niedersaechsisches-landesarchiv-abteilung-wolfenbuettel-37-alt-nr.-2518-fol.-94-1.jpg
Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Wolfenbüttel: 37 Alt Nr. 2518 fol. 94

Nach Platon kommt Niemeier schließlich zum wahren Kern seiner Vorlesung: die aristotelische Philosophie und die auf sie gründende peripatetische Schule (Philosophia Peripatetica/schola Peripatetica). Nicht weniger als 13 Sitzungen (also mehr als das Doppelte wie für die platonische Tradition und mindestens genauso viel wie für die Philosophie von Adam bis zu den Griechen!) wendet Niemeier ausschließlich für Aristoteles und dessen Tradition auf. Davon entfallen drei Sitzungen allein auf die Vorzüge der aristotelischen Philosophie. Im April folgen zwei allgemeine Sitzungen zur Kritik an Aristoteles. Danach behandelt Niemeier ausgiebiger die Rezeptionsgeschichte der aristotelisch-peripatetischen Philosophie, die ihn in drei Phasen zunächst über ihre antiken Kommentatoren wie Andronikos Rhodios, die mittelalterliche Scholastik und schließlich zu ihrer Renaissance im Reformationszeitalter führt (19.‒23. April). Der Rest der Rezeptionsgeschichte ist wiederum den Feinden und Kritikern der peripatetischen Schule gewidmet: In jedoch gerade einmal drei Sitzungen (24.‒26. April) werden die bedeutenden philosophischen Gegenentwürfe eines Ramé und Gassendi (die sich eine Sitzung teilen) sowie eines Descartes vergleichsweise rasch abgefertigt, was kaum der Bedeutung gerecht wird, die ihre philosophischen Schriften am Ende des 17. Jahrhundert auch für den gelehrten Universitätsdiskurs gehabt hatten. Der Rest des Aprils entfällt auf Einzelsitzungen zu den übriggebliebenen griechischen Philosophenschulen, wie der Kyniker, Stoiker und Epikureer. Bei all dem bemerken wir ein Übergewicht der alten, vornehmlich antiken Philosophie. Die neueren Philosophien, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert aufkamen, wurden dagegen ungleich weniger komplex thematisiert und immer wieder vor der Kontrastfolie der aristotelischen Philosophietradition bewertet.

 

Niedersächsisches-Landesarchiv, Abteilung Wolfenbüttel: 37 Alt Nr. 2518 fol. 95 //www.hab.de/wp-content/uploads/2020/11/hab-hablog-curriculum-niedersaechsisches-landesarchiv-abteilung-wolfenbuettel-37-alt-nr.-2518-fol.-95.jpg
Niedersächsisches-Landesarchiv, Abteilung Wolfenbüttel: 37 Alt Nr. 2518 fol. 95

 

Der Fluch der Tradition

Rechenschaftsberichte wie die von Johann Barthold Niemeier zeigen uns, wie einflussreich die Lehrdoktrin der aristotelisch-peripatetischen Philosophie an frühneuzeitlichen Universitäten wie Helmstedt auch gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch war. Nicht von ungefähr wurde in der philosophischen Fakultät nahezu jeder essentielle Teil der universitären Lehre, wie etwa Logik, Ethik, Rhetorik, Physik oder Metaphysik, durch die Behandlung der dafür einschlägigen Werke des so reichhaltigen aristotelisch-peripatetischen Œuvres abgedeckt. Die Lehre hatte den Universitätsstatuten sowie den akademischen Rezessverordnungen zu genügen und die Professoren hatten darüber vierteljährig vor dem Dekanat und den Fürsten Rechenschaft abzulegen. Die Vermittlung neuerer, zeitgenössischer Philosophien hingegen, die nicht explizit vorgeschrieben waren, fand de facto vielfach nur punktuell statt, obwohl sie von vielen Professoren immer wieder gefordert und in den Dissertationen auch oftmals umgesetzt wurde. Wie die Mehrzahl der Rechenschaftsberichte zeigt, blieben die neueren Philosophien im Helmstedter Curriculum lange Zeit jedoch eine Marginalie. Dies folgte einer durchaus strukturkonservativen Logik: Zu einer adäquaten Bewertung und – wenn überhaupt – eingehenderen Beschäftigung mit den neueren Philosophien konnte man nur gelangen, wenn man seinen Aristoteles in- und auswendig beherrschte. Erst nach 1700 sollte sich dieses Diktum zunehmend lockern und den neueren Philosophien im Curriculum – neben der aristotelisch-peripatetischen Philosophie – ein größerer Platz zukommen.

 

 

Information! Alle Abbildungen in diesem Beitrag stammen aus dem Niedersächsischen Landesarchiv – Abteilung Wolfenbüttel und sind unter der folgenden Archivalienverzeichnung verortet: https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v5597662