Ein Ochsenkopf, der viel verrät || HABlog – HAB

31.05.2022

Bis ins 12. Jahrhundert war das aus bearbeiteter Tierhaut hergestellte Pergament das einzige Material, aus dem in Europa Bücher hergestellt werden konnten. Erst im frühen 13. Jahrhundert war man in Italien und Spanien in der Lage, selbst Papier herzustellen; die erste Papiermühle auf deutschem Boden gründete 1390 der Großhändler, Fabrikant und Ratsherr Ulman Stromer in Nürnberg. Seither wurde das teure Pergament als Beschreibstoff immer mehr vom Papier abgelöst. Anders als ihre arabischen Kollegen versahen die europäischen Papiermacher ihr Papier mit bestimmten Wasserzeichen. Sie formten Figuren, Wappen, Gegenstände und Buchstaben aus Draht und integrierten sie in die zur Papierherstellung verwendeten Schöpfsiebe, sodass die Drahtmotive einen Abdruck im Papier hinterließen. Daher ist es heute möglich, anhand der in einem Buch befindlichen Wasserzeichen zu ermitteln, wann und wo das benutzte Papier hergestellt worden ist. Da das Papier in der Regel nicht auf Vorrat gekauft und gelagert, sondern zeitnah als Schreibmaterial verwendet wurde, kann so das betreffende Buch recht genau datiert werden.

Den Gedanken, Wasserzeichen als Hilfsmittel zum Datieren zu benutzen, formulierte als einer der Ersten der Naturforscher und Bibliothekar Gotthelf Fischer von Waldheim (1771–1853). 1804 erschien sein Versuch, die Papierzeichen als Kennzeichen der Altertumskunde anzuwenden. Darin beschrieb er verschiedene Motive von Wasserzeichen, die im Papier von datierten Urkunden vorhanden waren, und bildete sie zusammen mit den Jahreszahlen ab. Diesem Prinzip folgen bis heute die großen Wasserzeichensammlungen, z. B. die des Schweizer Papiermachers Charles-Moïse Briquet (1839–1918) und vor allem die des Historikers und Archivars Gerhard Piccard (1909–1989). Seine Sammlung, die im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufbewahrt wird, umfasst etwa 130.000 Karteikarten mit Abreibungen von Wasserzeichen. Beide zunächst gedruckt publizierten Sammlungen sind heute digital zugänglich. Seit 2010 fördert die DFG den Aufbau eines gemeinsamen europäischen Wasserzeichen-Informationssystems (WZIS), in dem neben Piccards Sammlung viele weitere Wasserzeichen aus den noch nicht erfassten Handschriften verzeichnet werden können.

Bevor das Wasserzeichen in die Datenbank übertragen wird, muss es zunächst abgerieben oder gescannt werden. Mithilfe des Atwise-Geräts (Austrian Watermark Imaging System) wird ein Foto jedes einzelnen Handschriftenblattes aufgenommen, sodass alle vorhandenen Wasserzeichen der Handschrift unmittelbar digital vorliegen. Der Scanbereich liegt bei 20,2 x 15cm und 200dpi, damit auch größere Wasserzeichen als Ganzes aufgenommen werden können. Eine Herausforderung stellen Handschriften dar, die sehr eng gebunden sind, da man den Scanner bis in den Falz führen muss. Bei Handschriften mit kleineren Formaten wurde das ursprüngliche Blatt in der Regel vor dem Beschriften gefaltet und auf die passende Größe zugeschnitten. Daher sind in solchen Handschriften und Drucken die Wasserzeichen teilweise zwei-, drei- oder sogar vierfach geteilt. Um ein solches Wasserzeichen rekonstruieren zu können, muss die Anordnung der Blätter im Codex bestimmt und in einer schematischen Lagenformel festgehalten werden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ganze Teile eines Wasserzeichens fehlen oder nicht vollständig erschlossen werden können. Typisch für kleinere Formate ist zusätzlich auch, dass das Wasserzeichen genau im Falz liegt und damit ein Scan nicht mehr möglich ist - in solchen Fällen muss es manuell erfasst werden. Dazu wird eine spezielle Leuchtfolie (Slimlight)  hinter das Blatt der Handschrift gelegt, die das Wasserzeichen sichtbar macht und einen Abrieb auf ein Blatt Papier mit Bleistift ermöglicht. Diese Durchreibung kann anschließend auf transparentes Papier übertragen und ebenfalls eingescannt werden.

Die Durchreibung eines Wasserzeichens im Falz. //www.hab.de/wp-content/uploads/2022/05/hab-hablog-zander-wassrzeichen-titel-1.jpg
Die Durchreibung eines Wasserzeichens im Falz.

Die auf diese Weise aufgenommenen Wasserzeichen einer Handschrift werden schließlich mit den entsprechenden Metadaten in die Datenbank eingepflegt. Eine einzelne Handschrift kann bis zu 50 verschiedene Wasserzeichen aufweisen, in der Regel sind allerdings lediglich fünf bis 15 unterschiedliche Wasserzeichen vorhanden. Zur Dateneingabe gehören auch die digital zu ermittelnden Maße des Wasserzeichens (Höhe, Breite und Abstand der Stegdrähte) und die Ermittlung von identischen, d. h. in allen Merkmalen völlig gleichen oder leicht abweichenden Wasserzeichen, die als Varianten klassifiziert werden. Dazu werden die Wasserzeichen digital übereinander gelegt.

Das mit rund 36.000 verschiedenen Varianten am häufigsten in WZIS vertretene Wasserzeichen ist der Ochsenkopf. Möglicherweise liegt das daran, dass der Evangelist Lukas, dessen Symboltier der Stier ist, als Schutzpatron der mittelalterlichen Malergilden auch von verwandten Gewerken wie den Papiermachern verehrt wurde. Um die unterschiedlichen Ochsenköpfe vergleichen zu können, wurde im Rahmen des Projektes „Aufbau eines Informationssystems für Wasserzeichen in den DFG-Handschriftenzentren“ eine Systematik erstellt, die auf Nachfrage erweitert werden kann.

Nicht alle Wasserzeichen sind so eindeutig erkennbar und und können entsprechend mühelos in die Systematik eingruppiert werden wie die Ochsenköpfe. Hätten Sie erraten, um welche Motive es sich bei den folgenden Wasserzeichen handelt?

Wenden Sie sich gerne an Frau Zander, wenn Sie im Rahmen Ihrer Forschungstätigkeit die Bestimmung der Wasserzeichen einer Wolfenbütteler Handschrift benötigen.

Verborgene Kostbarkeiten || HABlog – HAB

11.05.2022

Wenn sich die schwere Bronzetür am Eingang der Augusteerhalle öffnet, gibt sie die Sicht frei auf hoch aufragende Regalwände. Der umherschweifende Blick fällt auf historische Bücherschätze, allesamt, so scheint es, eingebunden in helles Pergament oder Leder – und doch täuscht dieser erste Eindruck. Gut verborgen lassen sich vereinzelt Bücher finden, für deren Einbände ein weitaus kostbareres Überzugsmaterial ausgewählt wurde: Seide.

Seit jeher erfreuten sich Seidengewebe in brillanten Farben großer Beliebtheit. Auf dem Webstuhl können je nach Verarbeitung der Garne die unterschiedlichsten Oberflächen wie etwa spiegelglatt glänzende Atlasgewebe oder auch weicher Seidensamt erzeugt werden. Aufgrund ihrer Materialität und herstellungsbedingten Kostbarkeit fanden solche Stoffe bereits im Mittelalter gezielt Verwendung als Einbandmaterial für besonders hochwertig ausgestattete Bücher. So wurden etwa Widmungsbände als Reverenz an die hochrangigen Empfänger*innen und als extravaganter Blickfang gerne mit edlen Materialien eingebunden. Ein glanzvoller Seideneinband, zusätzlich mit Gold- oder Silberprägung, fein ausgearbeiteten Beschlägen oder in seltenen Fällen sogar mit detaillierten (Metall-) Stickereien verziert – derlei optische Effekte kamen zum Einsatz, um der Gabe einen repräsentativen Rahmen zu geben. So lässt der hier abgebildete Widmungsband für König Matthias Corvinus von Ungarn (1442-1490) trotz der Schäden am roten Seidensamtüberzug den ursprünglichen prachtvollen Effekt des Einbands erahnen – auch dank der erhalten gebliebenen Brokatfragmente, welche von einer früheren Schließenbefestigung stammen.

Cod. Guelf. 43 Aug. 2° Vorderdeckel //www.hab.de/wp-content/uploads/2022/05/hab-hablog-hoelscher-verborgene-kostbarkeiten-abb-1.jpg
Cod. Guelf. 43 Aug. 2° Vorderdeckel
Cod. Guelf. 43 Aug. 2° Brokatfragmente //www.hab.de/wp-content/uploads/2022/05/hab-hablog-hoelscher-verborgene-kostbarkeiten-abb-2-quer.jpg
Cod. Guelf. 43 Aug. 2° Brokatfragmente

Auch der unten abgebildete, mit blauer Atlasseide überzogene Band aus der Einbandsammlung der Herzog August Bibliothek entsprach mit seiner aufwändigen Verzierung den Ansprüchen der höfischen Repräsentation im späten 18. Jahrhundert. Das Monogramm mit den ineinander verschlungenen Buchstaben „P“ und „C“ auf dem Vorderdeckel identifiziert in Verbindung mit der darüber schwebenden Herzogskrone Philippine Charlotte von Preußen (1716–1801) als Empfängerin dieses luxuriösen Kleinods. Sie war eine Schwester Friedrichs des Großen und wurde durch ihre Heirat im Jahr 1733 mit Karl I. zur Herzogin von Braunschweig-Lüneburg sowie Fürstin von Braunschweig-Wolfenbüttel.

Auf den Anlass des Geschenkes verweist die Kombination aus Buchstaben und Zahlen auf dem Rückdeckel „D – 21 Juli 1783“, deren Sinn sich beim Lesen des Titels erschließt: Empfindungen der reinen und wahren Freude des itzigen Besitzers von Vechelde bey der fünfzigjährigen frohen und glücklichen Wiederkehr des ein und zwanzigsten Julius im Jahre 1783.

Inhalt des nur vier Blatt umfassenden Buchs ist ein Gedicht mit Lobpreisungen der Herzogin. Aber nicht nur inhaltlich, auch durch die Wahl des Schriftträgers zeigt sich das Innenleben dem prächtigen Einband ebenbürtig. Verwendung fand nämlich kein gewöhnliches Büttenpapier: Die Buchseiten wurden vor dem Druck beidseitig mit ungefärbter Seide kaschiert. Anlass für die Huldigungsschrift war der Fünfzigste Jahrestag der Ankunft Philippine Charlottes im Herzogtum Braunschweig, und der Schenkende, damaliger „Besitzer von Vechelde“ - Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg, ein Bruder Karls I. – verfasste und verehrte sie seiner Schwägerin wohl zu diesem Jubiläum.

Das kostbare und optisch so wirkungsvolle Material Seide stellt vom Standpunkt der Erhaltung eine besondere Herausforderung dar, da es deutlich empfindlicher auf Umwelteinflüsse oder auch die bloße Handhabung reagiert als andere, strapazierfähigere Bucheinbandmaterialien wie Leder oder Pergament. So verlangen die mit Seide beklebten Blätter im Buchinneren beim Umwenden das Tragen von Handschuhen, damit an den Fingern haftende Schmutzpartikel oder Handschweiß nicht auf das cremeweiße Seidengewebe übertragen werden. Im Gegensatz zu Papier, welches während der Herstellung mit einer zusätzlichen Leimung versehen wird, nimmt die offene Struktur der Seidenfasern Feuchtigkeit oder Verunreinigungen sofort auf. Ein nachträgliches Entfernen der Flecken ist so gut wie unmöglich.

Eine weitere Gefahr für Seideneinbände geht von der Belastung durch Licht aus, welches das Material ausbleicht und die Fasern brüchig werden lässt. Die unterschiedliche Farbintensität der blauen Seide auf Vorder- und Rückdeckel des hier abgebildeten Bands zeigt, welche irreversiblen Schäden durch Lichteinstrahlung verursacht werden. Aus diesem Grund erhalten alle Seiden- und Seidensamteinbände in den Beständen der HAB eine maßgefertigte Buchkassette sowie einen passgenauen Umschlag aus alterungsbeständiger Polyesterfolie. Letzterer schützt die empfindlichen Einbandmaterialien bei der Handhabung ohne die prächtig gestalteten Stickereien zu verdecken.

Ein Seidensamteinband mit Kassette und Schutzumschlag //www.hab.de/wp-content/uploads/2022/05/hab-hablog-hoelscher-verborgene-kostbarkeiten-abb-6.jpg
Ein Seidensamteinband mit Kassette und Schutzumschlag

Beeindruckt von den hohen Buchregalen mit ihrer vorherrschenden Optik aus hellem Leder und Pergament können Besucher*innen der Herzog August Bibliothek diese seltenen Kostbarkeiten demnach auch auf den zweiten Blick nicht wahrnehmen, da sie in Schutzverpackungen verborgen liegen. Eine Ausnahme bietet sich im Zuge der Jubiläums-Ausstellung „Wir machen Bücher“: In der Schatzkammer zur Linken des Evangeliars Heinrichs des Löwen und Mathildes von England liegt der bereits oben erwähnte Widmungsband Cod. Guelf. 43 Aug 2°. Wer seine Aufmerksamkeit von den prächtig illuminierten Seiten lösen und auf die Kanten der Bucheinbände zu lenken vermag, wird bei beiden zumindest einen Blick auf roten Seidensamt erhaschen können.

 

#HAB und Gut #HABehind the Scenes

HAB ’ne Frage… || HABlog – HAB

03.01.2022

Wir haben Dr. Sandra Simon und Dr. Sven Limbeck gefragt, wer eigentlich bestimmt, welche Bücher für die HAB angekauft werden und auf Basis welcher Kriterien diese Entscheidungen getroffen werden. Sandra Simon, Koordinatorin der Fachreferate, sagt:

„Die HAB ist eine Forschungsbibliothek mit Schwerpunkten in der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung. Der Grundstock der Bibliothek ist der historische Bestand, der seit inzwischen fast 450 Jahren in Wolfenbüttel gepflegt und punktuell ergänzt wird. Für die Forschung an und mit den historischen Beständen wird ein großer Bestand an Forschungsliteratur bereitgestellt und stetig erweitert.

Für die Entscheidung, welche Medien für die HAB gekauft werden, sind Fachreferentinnen und Fachreferenten zuständig.

Fachreferent*innen sind Personen mit einem wissenschaftlichen Studienabschluss, die in der Regel über eine bibliothekarische Zusatzausbildung verfügen und für die Medienauswahl (Bücher, Zeitschriften, Datenbanken, E-Ressourcen) in der Bibliothek zuständig sind. In der HAB sind derzeit 17 Fachreferent*innen für 28 Fachreferate zuständig und werden von 13 Bibliothekar*innen in der Medienbearbeitung unterstützt. Die drei größten Fächer sind die Geschichte, die Germanistik sowie die Theologie.

Für ihre Entscheidungen, welche Medien gekauft werden sollen, stehen den Fachreferent*innen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung. Dies sind Bibliographien wie die Deutsche Nationalbibliographie und die British National Bibliography, Verlagsankündigungen, aber auch Neuerscheinungsverzeichnisse des Buchhandels, die auf das jeweilige Fachreferat zugeschnitten werden können. Darüber hinaus können Rezensionszeitschriften, social media sowie Mailinglisten von Fachgesellschaften die Fachreferatsarbeit zum einen im Hinblick auf Neuerscheinungen, zum anderen aber auch im Hinblick auf einen Überblick über aktuelle Forschungsthemen unterstützen. Des Weiteren wird die Fachreferatsarbeit durch Anschaffungswünsche der Nutzer*innen der HAB, die an erwerbung@hab.de gerichtet werden können, ergänzt.

Neben den genannten Hilfsmitteln orientieren sich die Fachreferent*innen bei ihren Entscheidungen an den allgemeinen Erwerbungskriterien der HAB, d.h. Medien mit Bezug zu den Sammelschwerpunkten in der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung sowie dem 18. Jahrhundert werden möglichst umfassend erworben. Medien, die über diesen engen Zuschnitt hinausgehen, werden berücksichtigt, allerdings erfolgt hier eine strenge Auswahl.

Alle Fachreferent*innen entscheiden im Rahmen dieser allgemeinen sowie der für die eigenen Fächer fachspezifischen Erwerbungskriterien eigenständig über die Erwerbung von gedruckten und elektronischen Büchern. Über Erwerbungen, die Folgekosten nach sich ziehen, d.h. jährlich zu zahlende Lizenzgebühren bei Datenbanken oder Abonnementkosten bei Zeitschriften, entscheiden alle Fachreferent*innen gemeinsam.

Insgesamt wird der Bestand an Forschungsliteratur der HAB durch die kontinuierliche Fachreferatsarbeit jährlich um ca. 8.500 Bücher sowie einige Datenbanken und Zeitschriften erweitert.“


Sven Limbeck ist als Fachreferent unter anderem für das Fachreferat Musikwissenschaft zuständig.

Erwerbungen im Fach Musikwissenschaft sollen das Fach in seiner ganzen systematischen Breite und historischen Tiefe berücksichtigen.

„Die Herzog August Bibliothek ist eine Bibliothek mit einem bedeutenden musikalischen Altbestand. Er reicht bei den mittelalterlichen Handschriften bis an die frühesten Anfänge der Aufzeichnung von Musik zurück, umfasst einige der bedeutendsten Quellen der mittelalterlichen Polyphonie und verfügt nicht zuletzt über einzigartige Bestände bei frühbarocken Meistern wie Michael Praetorius und Heinrich Schütz. Daher liegt der Schwerpunkt bei der Forschungsliteratur natürlich auf der historischen Musikwissenschaft, die für das Mittelalter (einstimmige und mehrstimmige Musik) und die Frühe Neuzeit (insbesondere die evangelische Kirchenmusik, die Vokalpolyphonie, das ganze Barockzeitalter, die Oper bis zur Vorklassik) auch in ihrer Internationalität möglichst vollständig vorhanden sein sollte. Bei den systematischen Teildisziplinen, etwa Notationskunde, Musiktheorie, Instrumentenkunde oder Genderforschung, gilt Entsprechendes.

Umgekehrt spielt beispielsweise die musiksoziologische oder -pädagogische Literatur, wenn sie keine historische Ausrichtung hat, für uns kaum eine Rolle. Grundlagenwerke (Nachschlagewerke, Handbücher, Biographien, grundlegende musikanalytische und kulturwissenschaftliche Monographien und Sammelbände) werden in möglichster Breite auch für die jüngere Musikgeschichte,  d h. zu Komponist*innen vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, angeschafft. Hierzu zählen etwa auch ausgewählte Titel über Jazz und populäre Musik (z. B. Bob Dylan, David Bowie u.a.) oder Rezeptionsphänomene – wer sich mit dem Nachleben der deutschen Literatur des Mittelalters beschäftigt, braucht irgendwann die Literatur über Richard Wagner…

Notenausgaben zählen zu den wichtigsten Quellen sowohl des praktischen Musizierens wie auch der musikwissenschaftlichen Forschung. Wir beziehen deshalb die historisch-kritischen Gesamtausgaben der musikalischen Überlieferung des europäischen Mittelalters, die Editionscorpora und Werkausgaben der Komponisten des 16. bis 18. Jahrhunderts vollständig sowie eine Auswahl vieler bedeutender Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Musikpraktische Ausgaben finden insbesondere dann Berücksichtigung, wenn kritische Ausgaben ganz fehlen oder ihnen Quellen der Herzog August Bibliothek zugrunde liegen.“

HABen Sie auch 'ne Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an: hablog@hab.de

 

#HABehind the Scenes

 

„Im Prozess permanenter Veränderung“ || HABlog – HAB

07.09.2021

Als Christopher Wilde (Los Angeles) im Jahr 2004 für seine Reise nach Deutschland die Koffer packte, legte er auch einen ungewöhnlichen Gegenstand hinein: Einen leeren, handgehefteten Buchblock aus Büttenpapier ohne Deckel. Dieser Buchblock war eine Einladung der Organik Art Group, vertreten durch Wilde selbst, Marshall Weber und Kurt Allerslev (beide New York) an die Künstlerinnengruppe ‹usus›. Der Name dieser Gruppe ergibt sich aus den Initialen ihrer zwei Begründerinnen: Uta Schneider (Offenbach am Main) und Ulrike Stoltz (Berlin). Schneider und Stoltz nahmen die Einladung an. So begann eine Zusammenarbeit, die ein langjähriger kollegialer Austausch voller Freundschaft und gegenseitiger Inspiration krönen sollte.

„Für dieses Buch gab es keine Spielregeln. Alles war erlaubt, jede Technik möglich“, beschreibt Ulrike Stoltz das Projekt. Die Künstler*innen gestalteten das Buch nacheinander und aufeinander aufbauend. Als Erste füllte Ulrike Stoltz die 196 Buchseiten in Handschrift mit ihrem Text Lady Mikado. Dieser verschwand dann zunehmend unter den verschiedenen Schichten von Farben und Formen, unter den Nähten, den Klebestreifen und Stempeln, die das Buch nach und nach füllten.

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„Der jetzt lesbare Text ist eine poetische Beschreibung dessen, was in dem Buch zu dem damaligen Zeitpunkt zu sehen war, was ich mit den abstrakten Formen spontan assoziierte – häufig Landschaftliches“, erzählt Ulrike Stoltz. Daher auch der Titel: Lady Mikado’s Landscape.

Da die Künstler*innen aufgrund vergangener Erfahrungen dem Postversand kein Vertrauen entgegenbrachten, reiste das Buch ausschließlich im Handgepäck über den Atlantik. Die amerikanischen Künstler nahmen an der Frankfurter Buchmesse teil, die Künstlerinnen hinter ‹usus› machten Vortragsreisen in die Vereinigten Staaten. So dauerte es acht Jahre, das Künstlerbuch fertigzustellen. Alle Künstler*innen antworteten mit ihrer Arbeit auf die Arbeit der Vorgänger*innen. Heute ist es selbst für die Beteiligten nicht immer möglich, zu unterscheiden, wer was wann hinzugefügt hat.

„Das Buch war im Prozess permanenter Veränderung“, sagt Stoltz. „Durch die radikale Freigabe des Buchraums kam es vor, dass Beteiligte die eigenen Spuren (Zeichnungen, Texte) beim nächsten Mal gar nicht oder in völlig veränderter Form wiederfanden, weil die Kolleg*innen Teile ausgeschnitten, zugeklebt oder übermalt hatten.“ Eine solche Zusammenarbeit erfordert uneingeschränktes Vertrauen darauf, dass die Partner*innen beim Arbeiten immer das Buch als Ganzes im Auge haben. Die künstlerische Identität muss zugunsten des Gesamtwerks zurücktreten, damit aus fünf eins werden kann.

Heute gehört Lady Mikado's Landscape zur Künstlerbuchsammlung der HAB. Marshall Weber, der als Teil der Organic Art Group ebenfalls an der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Werkes beteiligt war, erhielt für sein Projekt The Wolfenbüttel People’s Library 2019 den Künstlerbuchpreis der Herzog August Bibliothek. Stoltz und Weber verbindet eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit, die nun in Gestalt des Künstlerbuches in der HAB sicht- und greifbar geworden ist.

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Im Jahr 2020 verlieh die HAB gemeinsam mit der Curt Mast Jägermeister Stiftung den Künstlerbuchpreis an Ulrike Stoltz. Die Typografin und Buchkünstlerin war bis 2018 Professorin für Typografie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und gilt als Wegbereiterin und Vermittlerin des Genres Künstlerbuch. Ausgezeichnet wurde ihr Projektentwurf Caro Giordano. Resonanzen & Gestrüpp.  Im Verlauf eines Jahres fertigte sie hierzu ein Künstlerbuch an, das als „Kaleidoskop aus Texten und Bildern“ bezeichnet werden kann. Es nähert sich dem Leben und Wirken des Philosophen Giordano Bruno aus unterschiedlichsten Perspektiven und spürt verschiedensten Resonanzen nach. Den Ausgangspunkt dieser Spurensuche fand Ulrike Stoltz aber in der HAB: Es war der berühmte Brief, den Bruno am 6. Oktober 1589 in Helmstedt schrieb und den die Bibliothek aufbewahrt.

Am 9. September stellt Ulrike Stoltz im Rahmen der Preisverleihung das fertige Künstlerbuch Caro Giordano. Resonanzen & Gestrüpp zum ersten Mal dem Publikum vor. Die Veranstaltung wird per Livestream übertragen. Zusätzlich gibt es zu dem fertigen Ergebnis, dem Arbeitsprozess der Künstlerin und ihrer Inspiration durch die Werke Giordano Brunos eine kleine Ausstellung im Zeughaus. Mehr Informationen dazu gibt es hier: Caro Giordano – Preisverleihung und Präsentation des Künstlerbuchs – HAB

 

#HAB und Gut


Was macht eigentlich eine Fotografenmeisterin an der HAB? || HABlog – HAB

25.08.2021

HAB: Sie sind Fotografenmeisterin. Wie hat es Sie an die HAB verschlagen?

Michaela Weber: Das war ein glücklicher Zufall. Ich wollte eigentlich Bibliotheksassistentin werden und hatte mitbekommen, dass hier ein Ausbildungsplatz als Fotolaborantin zur Verfügung steht. Darauf habe ich mich beworben, aber auch noch eine Bewerbung hinterher geschoben zur Bibliotheksassistentenausbildung. Ich habe mir nicht allzu viele Hoffnung gemacht, hätte es nur zu gern gehabt, weil ich schon immer diese Faszination für alte Bücher hatte. Dann kam 1985 tatsächlich die Zusage für den Ausbildungsplatz zur Fotolaborantin. Ich habe die Ausbildung gemacht und das Glück gehabt, übernommen zu werden. Dann dachte ich mir irgendwann, es wäre schöner, wenn ich auch fotografieren könnte. Also habe ich eine verkürzte Fotografenausbildung gemacht und nach einigen weiteren Jahren bin ich zur Meisterschule gegangen und habe 2001 meine Prüfung abgelegt. Ich habe es nie bereut, dass ich mich für den fotografischen Berufszweig in der HAB entschieden habe.

 

Michaela Weber vor der Bibliothek. //www.hab.de/wp-content/uploads/2021/08/hab-hablog-interview-fotografenmeisterin-vor-der-bibliothek.jpg
Michaela Weber vor der Bibliothek.

HAB: Was fasziniert Sie so an alten Büchern?

Michaela Weber: Ich bewundere, wie fein damals geschrieben wurde. Diese Feinheiten, die man in den Handschriftenminiaturen hat. Man sieht sie erst dann, wenn man die Digitalaufnahme vergrößert. Es ist unglaublich. Auf einmal sind da in den Wolken winzig kleine Gesichter. Diese Faszination ist da und wird immer bleiben.

In den letzten Jahren habe ich eine persönliche Faszination für Künstlerbücher entwickelt. Bei diesen modernen Büchern fehlte mir erst der Zugang. Aber mit der Restauratorin Katharina Mähler, die die Künstler selbst oft kennt und auch um deren Intentionen weiß, eröffnen sich mir völlig neue Welten. Zusammen überlegen wir, wie die Bücher ins rechte Licht zu setzen sind. Wie kommt das Wesen dieser Bücher zur Geltung? Eine faszinierende Arbeit, das genieße ich sehr.

HAB: Wie kommt es, dass Sie in der HAB mit Kameras arbeiten und nicht mit Scannern?

Michaela Weber: Diese Entscheidung war gar nicht so einfach. Ich habe aus meiner fotografischen Erfahrung gesagt: Ich möchte mit Kameras arbeiten. Scanner waren besonders in der Anfangszeit bei weitem nicht gut genug. Ich sollte auch sicherstellen, dass ich mich um die Geräte kümmern kann. Wenn bei unserer Spiegelreflex-Technik mal irgendwas hakt, kann ich mich selbst auf die Fehlersuche begeben und meistens bekomme ich es wieder hin. Außerdem bleiben wir so flexibel und müssen uns nicht an einen bestimmten Anbieter binden.

HAB: Welche Auswirkungen hatte die technische Weiterentwicklung auf Ihre Arbeit in der Fotowerkstatt?

Michaela Weber: Wir hatten das Glück, den Umbruch von analog zu digital mitgestalten zu können und sind richtig stolz darauf, wie wir die Fotowerkstatt weiterentwickelt haben. Als ich anfing, haben wir komplett analog gearbeitet. Filme wurden in unterschiedlicher Länge belichtet, entwickelt, auseinandergeschnitten, eingetascht, beschriftet; zuerst mit der Hand, später mit einer elektrischen Schreibmaschine. Es war ein finsterer Job mit wenig Tageslicht. Das Auftragsbuch wurde per Hand geführt. Manchmal kam es vor, dass sich ein Kunde nicht mehr an die Auftragsnummern erinnern konnte – dann verbrachten wir viel Zeit mit Suchen. Als die erste Auftragsdatenbank kam, das war großartig. Und die Arbeit im dunklem Fotolabor fiel weg. Dafür müssen wir jetzt mit der EDV-Stabsstelle immer sicherstellen, dass genügend Speicherplatz vorhanden ist. Auch die Weitergabe der Aufträge hat sich gewandelt: Zuerst haben wir Fotos verschickt, dann waren es CD-ROM, jetzt sind es Links zum Download.

HAB: Wie läuft ein Digitalisierungsauftrag ab?

Michaela Weber: Digitalisierungsaufträge kommen zunächst bei der Auskunft an. Dann wird bei der Restaurierwerkstatt angefragt, ob das Buch digitalisierbar ist. Die Kolleg*innen schauen: Was kann das Buch? Wie weit kann ich es aufschlagen? Worauf muss ich achten? Das Ergebnis bekommen wir schriftlich, zum Teil mit weiteren Hinweisen. Wir machen die Aufnahmen und legen die Bilder auf dem Server ab, kopieren sie noch auf ein Laufwerk für den Kunden-Download und machen eine ZIP-Datei daraus. Anschließend wird eine Rechnung und eine Email an den Besteller geschickt.

Wir sind im Haus sehr vernetzt und das ist schön, denn es gibt viele Rückfragen. Man hat auch oftmals unheimlich nette Kommunikation mit den Bestellern. Sie bedanken sich für das tolle Bild, für die nette Kommunikation oder dafür, dass es so schnell ging; das freut uns alle immer sehr.

HAB: Haben Sie gerade bei den kostbaren und seltenen Stücken auch manchmal Angst, ein Buch zu beschädigen?

Michaela Weber: Nein, aber wir gehen ja auch sehr vorsichtig vor. Wenn wir beim Digitalisieren merken, das tut dem Buch nicht gut, halten wir Rücksprache mit den Restauratoren. Es gibt immer mal wieder solche Fälle. Wir haben es in der Hand und merken, wenn ein Buch schon fast gequält seufzt beim Aufschlagen. Dann machen wir es gerne auch wieder zu. Jedes Buch ist einzigartig und muss auch so behandelt werden.

HAB: Welche verschiedenen Objekte haben Sie schon digitalisieren dürfen?

Michaela Weber: Das allermeiste sind Bücher. Aber natürlich hat die Bibliothek auch andere Objekte wie Büsten, Gemälde, die grafischen Sammlungen… Oder auch Besonderheiten wie Luthers Löffel, Luthers Trinkglas … Das sind die Dinge, die richtig Spaß machen.

HAB: Was war Ihr bisher aufregendstes Projekt?

Michaela Weber: Das aufregendste war eine etwa 10 Meter lange Thora-Rolle, die ich gemeinsam mit unserem Restaurator Heinrich Grau aufgenommen habe. Es war ein unheimlicher Aufwand. Wir haben sie zu zweit ausgerollt und die Aufnahmen immer nur segmentweise machen können. Wir mussten wahnsinnig vorsichtig sein, weil sie schon sehr alt und brüchig war.

HAB: Was sind die größten Herausforderungen bei Ihrer Arbeit?

Michaela Weber: Große Formate sind immer eine riesige Herausforderung. Die Karten zum Beispiel, weil sie aus vielen Einzelaufnahmen zu einem ganzen Bild zusammengesetzt werden müssen. Das Handling großer Formate ist insgesamt sehr aufwändig. Zum Teil sind die Bücher auch wirklich schwer und die Arbeit mit ihnen ist körperlich sehr belastend. Die immer gleichen Bewegungen sind nicht besonders rückenschonend. Es ist eine schöne Arbeit, aber auch eine anstrengende Arbeit.

HAB: Was wäre Ihr Wunschdigitalisierungsprojekt?

Michaela Weber: Das Evangeliar Heinrich des Löwen und Mathildes von England. Es gibt nur Scans von den alten Ektachromen von 1985. Die sehen furchtbar aus. Wir haben zwar alle digitalisiert, aber wo nichts ist, kann man auch nichts hervorzaubern. Schärfe kann man nicht simulieren, vergrünte Farben nicht viel schöner machen.

HAB: Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft an der HAB?

Michaela Weber: Dass wir unsere gute Kommunikation beibehalten. Die Bibliothek ist eine sehr offene Institution, die sich bewegen kann. Ich finde es schön, wenn die Bibliothek als eine Institution wahrgenommen wird, die mitten unter uns ist, wo jeder hingehen kann, um sich Wissen anzueignen, in der man gute Ansprechpartner findet und zu guter Letzt schöne Bilder bekommt.


Die obige Abbildung zeigt den Wolfenbütteler Buchspiegel. Diese Buchwippe wurde von der Herzog August Bibliothek in Zusammenarbeit mit den Firmen Fototechnik Kaiser und Image Engineering entwickelt und erlaubt die Digitalisierung empfindlicher Bücher bei einem buchschonenden Öffnungswinkel von nur 45°.


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